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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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offen. Im Sommer sind sie sämmtlich geschlossen, denn in dieser Zeit gibt es
für die Jugend andere Geschäfte. Die fünf Gänse wollen gehütet sein: dazu ge¬
hört ein Kind -- die zehn Schafe iind zwei Ziegen meckern nach einem Befehls¬
haber: dazu gehört ein Kind. -- Die Ställe wollen gereinigt, die Kuh gemolken
sein: dazu gehört wieder ein Kind, denn Vater, Mutter und Knecht sind ans dem
Gehöres (Frohndienst) und sind es morgen und übermorgen und am vierten Tage
wieder -- es muß ihnen auch Mittag-, Morgen- und Vesperbrod auf das herr¬
schaftliche Feld hinausgetragen werden -- denn zum Mahl nach Hause zu ziehen,
gestattet ihnen niemals der Edelmann, und dazu gehört natürlich wieder ein
Kind; genug die Kiuder sind zur Zeit des Sommers so wichtige Personen in
der Hauswirthschaft, daß ein emsiger Bauer wenigstens nach einem halben Dutzend
trachten muß, um sich recht behaglich zu fühlen. So ist ersichtlich, daß in Ru߬
land an wirksame Volksschulen nicht eher geglaubt werden kann, als bis die ge¬
sellschaftlichen Verhältnisse des Volks eine völlige Umgestaltung erfahren haben.

Nächst den Ostseeprovinzen darf sich das Königreich Polen rühmen, im rus¬
sischen Reiche am besten mit Schulen versorgt zu sein, d. h. ihm steht der Ruhm
zu, auf seinen 2271 Quadratmeilen Mchenranms etwa anderthalb Dutzend Dorf¬
schulen zu besitzen. Frägt man, dnrch wen diese Schulen ins Leben getreten, so
vernimmt Man die Namen polnischer Edelleute z. B. Lipsti, Grabowski, Osza-
rowski, Halpcrt ze.; die Regierung aber wird nicht genannt, und in ihren
eigenen, nämlich den confiscirten Dörfern,, sowie auf den alten Staatsgütern, sind
keine Schulen. Zur Zeit, da das Königreich seine Constitution uoch besaß, zwischen
1815 und 1830 ist mehrere Male beim Reichstage die Einrichtung eines allge-
meinen Schulwesens sür den Bauernstand zum Antrag gekommen und durchgegangen;
allein stets wurde die Ausführung von der Negierung verhindert, ja selbst die
Baueruschulen, welche zur Zeit des ehemaligen Herzogthums Warschau ans den
Staatsgütern errichtet worden waren, wurden wieder aufgehoben. Hier zeigte die
Negierung ihr Prinzip unverhüllt. Aber eine empörende Scheinheiligkeit war es,
wenn die öffentlichen Organe der Regierung ans den polnischen Adel schmähten,
daß er die "Erleuchtung und Beglückung" seiner Bauerngemeinden aus abscheulich
eigensüchtiger Speculation vernachläßigt habe, wahrend in Nußland die Hin¬
dernisse so bedeutend wären, und namentlich in den Ostseeprovinzen schon so un¬
endlich Vieles durch die kaiserliche Negierung als begeisterndes Beispiel hingestellt
worden sei.

Wo nur siebzehn Schulen sind, da kann von einem Schulwesen nicht die
Rede sein. Die wenigen Schulen sind natürlich uuter sich nach den Verhältnissen,
in welchen ihre Stifter sich befinden, verschieden. Die Baucrnschule auf- der großen
Grnndherrschaft des Grafen Oszarowöki ist vortrefflich. Die Kinder der Bauen
sind zum Schulbesuch gezwungen, indem ihre Eltern von Strafen bedroht sind.
Die beiden Lehrer sind Deutsche, lehren Lesen, Schreiben, Rechnen', Geschichte,


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offen. Im Sommer sind sie sämmtlich geschlossen, denn in dieser Zeit gibt es
für die Jugend andere Geschäfte. Die fünf Gänse wollen gehütet sein: dazu ge¬
hört ein Kind — die zehn Schafe iind zwei Ziegen meckern nach einem Befehls¬
haber: dazu gehört ein Kind. — Die Ställe wollen gereinigt, die Kuh gemolken
sein: dazu gehört wieder ein Kind, denn Vater, Mutter und Knecht sind ans dem
Gehöres (Frohndienst) und sind es morgen und übermorgen und am vierten Tage
wieder — es muß ihnen auch Mittag-, Morgen- und Vesperbrod auf das herr¬
schaftliche Feld hinausgetragen werden — denn zum Mahl nach Hause zu ziehen,
gestattet ihnen niemals der Edelmann, und dazu gehört natürlich wieder ein
Kind; genug die Kiuder sind zur Zeit des Sommers so wichtige Personen in
der Hauswirthschaft, daß ein emsiger Bauer wenigstens nach einem halben Dutzend
trachten muß, um sich recht behaglich zu fühlen. So ist ersichtlich, daß in Ru߬
land an wirksame Volksschulen nicht eher geglaubt werden kann, als bis die ge¬
sellschaftlichen Verhältnisse des Volks eine völlige Umgestaltung erfahren haben.

Nächst den Ostseeprovinzen darf sich das Königreich Polen rühmen, im rus¬
sischen Reiche am besten mit Schulen versorgt zu sein, d. h. ihm steht der Ruhm
zu, auf seinen 2271 Quadratmeilen Mchenranms etwa anderthalb Dutzend Dorf¬
schulen zu besitzen. Frägt man, dnrch wen diese Schulen ins Leben getreten, so
vernimmt Man die Namen polnischer Edelleute z. B. Lipsti, Grabowski, Osza-
rowski, Halpcrt ze.; die Regierung aber wird nicht genannt, und in ihren
eigenen, nämlich den confiscirten Dörfern,, sowie auf den alten Staatsgütern, sind
keine Schulen. Zur Zeit, da das Königreich seine Constitution uoch besaß, zwischen
1815 und 1830 ist mehrere Male beim Reichstage die Einrichtung eines allge-
meinen Schulwesens sür den Bauernstand zum Antrag gekommen und durchgegangen;
allein stets wurde die Ausführung von der Negierung verhindert, ja selbst die
Baueruschulen, welche zur Zeit des ehemaligen Herzogthums Warschau ans den
Staatsgütern errichtet worden waren, wurden wieder aufgehoben. Hier zeigte die
Negierung ihr Prinzip unverhüllt. Aber eine empörende Scheinheiligkeit war es,
wenn die öffentlichen Organe der Regierung ans den polnischen Adel schmähten,
daß er die „Erleuchtung und Beglückung" seiner Bauerngemeinden aus abscheulich
eigensüchtiger Speculation vernachläßigt habe, wahrend in Nußland die Hin¬
dernisse so bedeutend wären, und namentlich in den Ostseeprovinzen schon so un¬
endlich Vieles durch die kaiserliche Negierung als begeisterndes Beispiel hingestellt
worden sei.

Wo nur siebzehn Schulen sind, da kann von einem Schulwesen nicht die
Rede sein. Die wenigen Schulen sind natürlich uuter sich nach den Verhältnissen,
in welchen ihre Stifter sich befinden, verschieden. Die Baucrnschule auf- der großen
Grnndherrschaft des Grafen Oszarowöki ist vortrefflich. Die Kinder der Bauen
sind zum Schulbesuch gezwungen, indem ihre Eltern von Strafen bedroht sind.
Die beiden Lehrer sind Deutsche, lehren Lesen, Schreiben, Rechnen', Geschichte,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/155>, abgerufen am 01.09.2024.