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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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poliüsche Natioualstoffe benutzt hat. Ballete wie "die heimathliche Hochzeit"
(Kessle oz?eowie) werden für immer im Lande ihren Werth behalten, da die
Mimik auf nationalen Sitten beruht, vollkommen verständlich ist und dem Künstler
gute Momente gibt.

Je mehr Pflege die Directum dem Ballet angedeihen läßt, desto verletzender
behandelt sie das Drama. Es ist ein Jammer diese Mißhandlung zu beobachten,
um so mehr, da der Darstellung so außerordentliche Kräfte zu Diensten stehen.
Denn die Künstler, besonders die, welche vou den Proviuzial- oder Privatbühnen
zu der kaiserliche" in Warschau gelangt sind, leisten in der That Nespectables.
Komik und ernstes Spiel sind gie'es gut. Das Lustspiel wurde, da es zumeist
aus das Familienleben basirt ist, noch weniger in seinem Gedeihen beeinträchtigt.
Letzteres aber wird von der politischen Censur auf schauderhafte Weise behandelt,
so daß es kaum einem polnischen Dichter möglich ist, seine Schöpfungen für die
Bühnen seines Vaterlandes zu berechnen. Hunderte von Wörtern und Redens¬
arten, wie: Freiheit, Racheschwert, Slave, Unterdrückung, Vaterland, dürfen nicht
vorkommen und werden herausgestrichen. Ist der Dichter im Staude wie der
Graf Skarbek, den Diebstahl eines Strickbeutels durch eine Mutter zum Motiv
für den Wahnsinn der Tochter, der Heldin des Stücks, zu machen, so ist er für die
unter russischer Direction steheude polnische Bühne verloren. So sind es die
Machwerke feiler Lohnarbeiter, welche, bisweilen "Jeder dem Schein neuer Origi¬
nale, erscheinen. Nur die Kraft der darstellenden Künstler, die bereits eingetretene
Gewohnheit des Publicums im Drama geschmackloses Zeug, aber keine Poesie zu
scheu, und endlich der strenge, auf Gefängnißstrafe beruhende Befehl, nie Zeichen
des Mißfallens zu geben, halten diese Mißgeburten. Die besten sind aus dem
Französischen übersetzt, doch siud es keinesweges die besten der französischen Thea¬
ter. Der russischen Politik zu gefallen, werden nur solche gewählt, welche in der
bürgerlichen Familie spielen, niemals historische. Fürstliche Personen dürfen ans,
den Bretern nie vorkommen, selbst nicht Träger hoher Staatswürdcn, z. B. Mi¬
nister, Generale ze. Den Kaiser von China hat man in früherer Zeit ein Mal
passiren lassen, den Bei von Tunis dagegen hat man in neuer Zeit gestrichen Und
daraus einen afrikanischen Edelmann gemacht. Tragödien sind ohne alle Bedingung
uuzuläßlich und sollte sich einmal eine finden, an welcher nichts weiter auszusetzen
ist, als der Name, so nennt man sie ein Drama.

Unter solchen Umständen sollte man glauben, die Schauspieler müßten alle
Lust verlieren. Doch ist dieß nicht der Fall, das gebildete Publicum in Warschau
wenigstens geht gegenwärtig nie in das Theater, um ein poetisches Kunstwerk,
sondern um die Schauspieler zu sehen und -zu genießen. Daher ist auch von
einer Theaterkritik in Warschau nicht die Rede; man freut sich, wenn die
Schauspieler in dieser oder jener Scene vermocht haben, die Erbärmlichkeit des
Stücks übersehen zu machen. Die sehnsuchtsvollen Seufzer nach dem elenden


poliüsche Natioualstoffe benutzt hat. Ballete wie „die heimathliche Hochzeit"
(Kessle oz?eowie) werden für immer im Lande ihren Werth behalten, da die
Mimik auf nationalen Sitten beruht, vollkommen verständlich ist und dem Künstler
gute Momente gibt.

Je mehr Pflege die Directum dem Ballet angedeihen läßt, desto verletzender
behandelt sie das Drama. Es ist ein Jammer diese Mißhandlung zu beobachten,
um so mehr, da der Darstellung so außerordentliche Kräfte zu Diensten stehen.
Denn die Künstler, besonders die, welche vou den Proviuzial- oder Privatbühnen
zu der kaiserliche» in Warschau gelangt sind, leisten in der That Nespectables.
Komik und ernstes Spiel sind gie'es gut. Das Lustspiel wurde, da es zumeist
aus das Familienleben basirt ist, noch weniger in seinem Gedeihen beeinträchtigt.
Letzteres aber wird von der politischen Censur auf schauderhafte Weise behandelt,
so daß es kaum einem polnischen Dichter möglich ist, seine Schöpfungen für die
Bühnen seines Vaterlandes zu berechnen. Hunderte von Wörtern und Redens¬
arten, wie: Freiheit, Racheschwert, Slave, Unterdrückung, Vaterland, dürfen nicht
vorkommen und werden herausgestrichen. Ist der Dichter im Staude wie der
Graf Skarbek, den Diebstahl eines Strickbeutels durch eine Mutter zum Motiv
für den Wahnsinn der Tochter, der Heldin des Stücks, zu machen, so ist er für die
unter russischer Direction steheude polnische Bühne verloren. So sind es die
Machwerke feiler Lohnarbeiter, welche, bisweilen »Jeder dem Schein neuer Origi¬
nale, erscheinen. Nur die Kraft der darstellenden Künstler, die bereits eingetretene
Gewohnheit des Publicums im Drama geschmackloses Zeug, aber keine Poesie zu
scheu, und endlich der strenge, auf Gefängnißstrafe beruhende Befehl, nie Zeichen
des Mißfallens zu geben, halten diese Mißgeburten. Die besten sind aus dem
Französischen übersetzt, doch siud es keinesweges die besten der französischen Thea¬
ter. Der russischen Politik zu gefallen, werden nur solche gewählt, welche in der
bürgerlichen Familie spielen, niemals historische. Fürstliche Personen dürfen ans,
den Bretern nie vorkommen, selbst nicht Träger hoher Staatswürdcn, z. B. Mi¬
nister, Generale ze. Den Kaiser von China hat man in früherer Zeit ein Mal
passiren lassen, den Bei von Tunis dagegen hat man in neuer Zeit gestrichen Und
daraus einen afrikanischen Edelmann gemacht. Tragödien sind ohne alle Bedingung
uuzuläßlich und sollte sich einmal eine finden, an welcher nichts weiter auszusetzen
ist, als der Name, so nennt man sie ein Drama.

Unter solchen Umständen sollte man glauben, die Schauspieler müßten alle
Lust verlieren. Doch ist dieß nicht der Fall, das gebildete Publicum in Warschau
wenigstens geht gegenwärtig nie in das Theater, um ein poetisches Kunstwerk,
sondern um die Schauspieler zu sehen und -zu genießen. Daher ist auch von
einer Theaterkritik in Warschau nicht die Rede; man freut sich, wenn die
Schauspieler in dieser oder jener Scene vermocht haben, die Erbärmlichkeit des
Stücks übersehen zu machen. Die sehnsuchtsvollen Seufzer nach dem elenden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/112>, abgerufen am 27.07.2024.