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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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treten, keine hervortritt, um das Interesse zu concentriren, jede nur kommt, um
sich zu zeigen, und verschwindet, um nicht länger lästig zu sein, worin alles, die
Krautstaude am Wege, wie die Ermordung eines Fürsten, gleichmäßig umständlich
beschrieben und erklärt wird, worin keine geschichtliche Handlung, sondern nur un¬
zähliges Detail zu finden ist -- ebenso sein "Eveline und Vaillerole", worin der
Cardinal Richelieu als Zertrümmerer der Aristokratie dargestellt ist, und das
Ganze sich ebenso in unzählige unzusammcugehörige Scenen, die zum Theil aller¬
dings niedlich gemacht sind, auflöst, sind Beweise dafür; ebenso Iwan Wanenkv's,
I. Boriczewski's Arbeiten, I. Zchcwcn's fünf Bände starker "Sonnenstadt", Wol-
kow's und Czcrnjawski's, Ulitinius und Th. Van-Din's (ein Pseudonym) Dich¬
tungen, ja man darf sagen, Alles, was nur erschienen ist.

Von Seiten des kaiserlichen Hauses ist, ich wiederhole es, für das russische
Theater Alles geschehen, was nur geschehen konnte und anderswo nicht ge¬
schieht. Die äußerste Freigebigkeit begünstigt die Künstler, man sucht sie durch
die Schulen vom Gebiete roher Faxenmachern ans das der wirklichen Kunst zu
versetzen, man gewährt den Tüchtigsten die großartigsten Prämien, man stellt die
Schauspieler deu Staatsbeamteten gleich, man verpflichtet sie nur zu einer fünf¬
undzwanzig Jahre langen Dienstleistung (von ihrem Debüt an gerechnet) und eine
kaiserliche Ordre bestimmt ihnen nach Ablauf dieser Zeit ihr volles Gehalt
als Pension; man setzt auf russische Gastspiele die höchsten Preise, um ans
den dürren Steppen der einheimischen Kunst irgend ein Talent hervorzulocken;
man verpflichtet bei Strafe die russischen Schauspieler das deutsche Theater zu
besuchen, damit sie Kunstbildung gewinnen, und veranstaltet deshalb durch enorme
Honorare vorzügliche Gastspiele im deutschen Theater zu Petersburg; doch alles
ist umsonst, man bringt das russische Theater nicht viel höher als zu einer Hand¬
werksstätte. Nur die nationale Komik, burleske und drollige Naivetät hat in ein¬
zelnen Schauspielern, die in Bildung und Tragweite ihres Talentes unsern Lo¬
kalkomikern gleichen, sogar glänzende Vertreter. Für höhere Schauspielkunst
haben sie aber nur genüge Bedeutung. Für diese fehlten Bildung und Empfin¬
dungen im Volk, es mangeln die Dichtungen und die Träger der Poesie,
die Darsteller.

Im Gegensatz dazu würde das polnische Theater in schönem Gedeihen
haben emporwachsen können. Im Volk feuriges Interesse, die Dichter von Be¬
geisterung zur Production getrieben, eine Anzahl von kleinen tüchtigen Gesell¬
schaften Talente 'suchend, bildend und den großen Bühnen zuführend -- was
fehlte dem polnischen Theater noch? Die Bühnen von Wilna, Warschau, Krakau,
Lemberg und Posen müssen auch in der That am Ende des vorigen und Anfang
dieses Jahrhunderts eine merkwürdige, im Ausland wenig beachtete Blüthe des
Schauspiels gehabt haben, wenn man der sehnsüchtigen Bewunderung älterer,
noch lebender Künstler glauben darf. Und von 1815 bis 30 wurde die Kunst


treten, keine hervortritt, um das Interesse zu concentriren, jede nur kommt, um
sich zu zeigen, und verschwindet, um nicht länger lästig zu sein, worin alles, die
Krautstaude am Wege, wie die Ermordung eines Fürsten, gleichmäßig umständlich
beschrieben und erklärt wird, worin keine geschichtliche Handlung, sondern nur un¬
zähliges Detail zu finden ist — ebenso sein „Eveline und Vaillerole", worin der
Cardinal Richelieu als Zertrümmerer der Aristokratie dargestellt ist, und das
Ganze sich ebenso in unzählige unzusammcugehörige Scenen, die zum Theil aller¬
dings niedlich gemacht sind, auflöst, sind Beweise dafür; ebenso Iwan Wanenkv's,
I. Boriczewski's Arbeiten, I. Zchcwcn's fünf Bände starker „Sonnenstadt", Wol-
kow's und Czcrnjawski's, Ulitinius und Th. Van-Din's (ein Pseudonym) Dich¬
tungen, ja man darf sagen, Alles, was nur erschienen ist.

Von Seiten des kaiserlichen Hauses ist, ich wiederhole es, für das russische
Theater Alles geschehen, was nur geschehen konnte und anderswo nicht ge¬
schieht. Die äußerste Freigebigkeit begünstigt die Künstler, man sucht sie durch
die Schulen vom Gebiete roher Faxenmachern ans das der wirklichen Kunst zu
versetzen, man gewährt den Tüchtigsten die großartigsten Prämien, man stellt die
Schauspieler deu Staatsbeamteten gleich, man verpflichtet sie nur zu einer fünf¬
undzwanzig Jahre langen Dienstleistung (von ihrem Debüt an gerechnet) und eine
kaiserliche Ordre bestimmt ihnen nach Ablauf dieser Zeit ihr volles Gehalt
als Pension; man setzt auf russische Gastspiele die höchsten Preise, um ans
den dürren Steppen der einheimischen Kunst irgend ein Talent hervorzulocken;
man verpflichtet bei Strafe die russischen Schauspieler das deutsche Theater zu
besuchen, damit sie Kunstbildung gewinnen, und veranstaltet deshalb durch enorme
Honorare vorzügliche Gastspiele im deutschen Theater zu Petersburg; doch alles
ist umsonst, man bringt das russische Theater nicht viel höher als zu einer Hand¬
werksstätte. Nur die nationale Komik, burleske und drollige Naivetät hat in ein¬
zelnen Schauspielern, die in Bildung und Tragweite ihres Talentes unsern Lo¬
kalkomikern gleichen, sogar glänzende Vertreter. Für höhere Schauspielkunst
haben sie aber nur genüge Bedeutung. Für diese fehlten Bildung und Empfin¬
dungen im Volk, es mangeln die Dichtungen und die Träger der Poesie,
die Darsteller.

Im Gegensatz dazu würde das polnische Theater in schönem Gedeihen
haben emporwachsen können. Im Volk feuriges Interesse, die Dichter von Be¬
geisterung zur Production getrieben, eine Anzahl von kleinen tüchtigen Gesell¬
schaften Talente 'suchend, bildend und den großen Bühnen zuführend — was
fehlte dem polnischen Theater noch? Die Bühnen von Wilna, Warschau, Krakau,
Lemberg und Posen müssen auch in der That am Ende des vorigen und Anfang
dieses Jahrhunderts eine merkwürdige, im Ausland wenig beachtete Blüthe des
Schauspiels gehabt haben, wenn man der sehnsüchtigen Bewunderung älterer,
noch lebender Künstler glauben darf. Und von 1815 bis 30 wurde die Kunst


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/108>, abgerufen am 01.09.2024.