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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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Dampfes beträchtliche Fortschritte gemacht. In kaum mehr als vier Stunden
war unser Schiff vor Ost ende und der kleine Capitän wußte es sicher in den
schwierigen Hafen zu fuhren. Die Küste, so weit das Auge sie aus der Ferne
bestreicht, ist ein kahler, öder Anblick; ein oder zwei Thurmspitzen, deren eine der
Kathedrale von Brügge gehört, sind die einzigen Haltpunkte. Nach und nach
taucht der dicke Kirchthurm von Ostende auf und was sich längs der andern Seite
des Sandgestades dreht, sind ein halbes oder ganzes Dutzend Wiudmühlenflügcl.

Wenn Ostende I2M0 Einwohner hat, und jene uicht Badegäste waren,
die den Landungsplatz in großem Kreise umgaben, so mußte ein großer Theil
der Bevölkerung zu unserem Empfange versammelt sein. Gewiß Jeder von uns
hätte ihnen diese Aufmerksamkeit und anch das Bedauern erlassen, welche unsere
fahlen, bleichen Gesichter ihnen entlockten. Nur die zahlreichen Agenten der
Hotels und Gasthäuser kannten kein Mitleid. Halb flämisch, halt, französisch,
halb englisch zerrissen sie Luft und Ohren mit ihren Ausrufen, und während das
Gepäck rechts nach einer Zollbaracke gerollt wurde, drängten sie uus links der
Stadt zu. Mein Gepäck kümmerte mich nicht. Ist es einmal in den Händen
der Zolloffiziantcn, ist es in der Regel sicher, und Reisende, die viel gereist,
wollen bemerkt haben, daß das letzte zu revidirende Stück schneller durchgeht
als das erste. Ich verlangte nach Obdach, ergab mich dem Ersten, der sich
meiner bemächtigte, und war trefflich aufgehoben. Ausgeruht und gestärkt, empfing
ich mein Gepäck, ohne es öffnen zu müssen, und Niemand fragte nach Pässen.
Wäre es wahr, was ein kluger Staatsmann geäußert, daß Europa nicht eher
Ruhe und Glück besitzen werde, bis jeder Einzelne ohne Paß von Petersburg
nach Lissabon reisen könne, so scheint die Zeit solchen Besitzes zu nahen. Ans
der Mitte Deutschlands durch vieler Herren Lande war ich bis London gekommen,
ungefragt uach meinem Passe, und ich bin zurückgekehrt in die Mitte Deutsch¬
lands, und kein Visum steht auf meinem Passe.

Rings vou der Landseite ist Ostende mit Wall und Graben umschlossen, so
eng und hoch, daß es in einer Art Kessel liegt, über dessen Rand kein Blick
hinaus kann. Lüstern nach dem Jenseit glaubte ich kein Verbrechen zu begehen
oder dachte vielmehr nnr an die Erfüllung meines Wunsches, als ich eine Stelle
des Walles erstieg -- kein gebahnter Weg allerdings, aber kurzes, weiches Gras.
Kaum hatte ich die Höhe erklommen und die Gegend von Blankenberghe erspäht,
umrollt mich das Gebrüll des belgischen Löwens in Gestalt eines mannhaften
Dragoners, der, wie aus der Erde aufgewachsen, in donnerndem Französisch die
Keckheit schalt, mit welcher ich das Gras, des Königs Eigenthum, zertreten.
Ich motivirte den Frevel mit meiner Unwissenheit und hätte ich mich gleichzeitig
auf den Rückzug begeben, wäre der Löwe wohl ruhig geworden. Statt dessen
entschuldigte ich meine That ferner auf deutsche Weise wortreich und durch Ana¬
logien, mit meiner Ankunft von der Dover-Festung, wo das Betreten des Grases


Dampfes beträchtliche Fortschritte gemacht. In kaum mehr als vier Stunden
war unser Schiff vor Ost ende und der kleine Capitän wußte es sicher in den
schwierigen Hafen zu fuhren. Die Küste, so weit das Auge sie aus der Ferne
bestreicht, ist ein kahler, öder Anblick; ein oder zwei Thurmspitzen, deren eine der
Kathedrale von Brügge gehört, sind die einzigen Haltpunkte. Nach und nach
taucht der dicke Kirchthurm von Ostende auf und was sich längs der andern Seite
des Sandgestades dreht, sind ein halbes oder ganzes Dutzend Wiudmühlenflügcl.

Wenn Ostende I2M0 Einwohner hat, und jene uicht Badegäste waren,
die den Landungsplatz in großem Kreise umgaben, so mußte ein großer Theil
der Bevölkerung zu unserem Empfange versammelt sein. Gewiß Jeder von uns
hätte ihnen diese Aufmerksamkeit und anch das Bedauern erlassen, welche unsere
fahlen, bleichen Gesichter ihnen entlockten. Nur die zahlreichen Agenten der
Hotels und Gasthäuser kannten kein Mitleid. Halb flämisch, halt, französisch,
halb englisch zerrissen sie Luft und Ohren mit ihren Ausrufen, und während das
Gepäck rechts nach einer Zollbaracke gerollt wurde, drängten sie uus links der
Stadt zu. Mein Gepäck kümmerte mich nicht. Ist es einmal in den Händen
der Zolloffiziantcn, ist es in der Regel sicher, und Reisende, die viel gereist,
wollen bemerkt haben, daß das letzte zu revidirende Stück schneller durchgeht
als das erste. Ich verlangte nach Obdach, ergab mich dem Ersten, der sich
meiner bemächtigte, und war trefflich aufgehoben. Ausgeruht und gestärkt, empfing
ich mein Gepäck, ohne es öffnen zu müssen, und Niemand fragte nach Pässen.
Wäre es wahr, was ein kluger Staatsmann geäußert, daß Europa nicht eher
Ruhe und Glück besitzen werde, bis jeder Einzelne ohne Paß von Petersburg
nach Lissabon reisen könne, so scheint die Zeit solchen Besitzes zu nahen. Ans
der Mitte Deutschlands durch vieler Herren Lande war ich bis London gekommen,
ungefragt uach meinem Passe, und ich bin zurückgekehrt in die Mitte Deutsch¬
lands, und kein Visum steht auf meinem Passe.

Rings vou der Landseite ist Ostende mit Wall und Graben umschlossen, so
eng und hoch, daß es in einer Art Kessel liegt, über dessen Rand kein Blick
hinaus kann. Lüstern nach dem Jenseit glaubte ich kein Verbrechen zu begehen
oder dachte vielmehr nnr an die Erfüllung meines Wunsches, als ich eine Stelle
des Walles erstieg — kein gebahnter Weg allerdings, aber kurzes, weiches Gras.
Kaum hatte ich die Höhe erklommen und die Gegend von Blankenberghe erspäht,
umrollt mich das Gebrüll des belgischen Löwens in Gestalt eines mannhaften
Dragoners, der, wie aus der Erde aufgewachsen, in donnerndem Französisch die
Keckheit schalt, mit welcher ich das Gras, des Königs Eigenthum, zertreten.
Ich motivirte den Frevel mit meiner Unwissenheit und hätte ich mich gleichzeitig
auf den Rückzug begeben, wäre der Löwe wohl ruhig geworden. Statt dessen
entschuldigte ich meine That ferner auf deutsche Weise wortreich und durch Ana¬
logien, mit meiner Ankunft von der Dover-Festung, wo das Betreten des Grases


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/100>, abgerufen am 27.07.2024.