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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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populärer, pöbelhafter, und weiß durch die völlige Freiheit des Cynismus zuwei¬
len in der That eine gewisse Wirkung hervorzubringen. Das Verhältniß des
blasirten Scipio, des ganz entmenschter Wüstlings, zu seinem Vater (im Martl")
ist von der Art, und wird durch die Reflexion um nichts erfreulicher, daß die
Originale zu dergleichen Ungeheuern sich in der That in der Pariser Gesellschaft
vorfinden. -- Für das Raffinement seiner Phantasie uur ein Beispiel, aus dem
Roman 1"" einen.v LÄcluvro", dessen eigentliche Helden die Leichen Cromwell's und
Carl's I. sind, an denen Rache und Haß ihr viehisches Gelüst ausüben. Die
Schlußdecoration ein allgemeiner Brand; rechts ein Schloß, ans dessen Ballon
eine alte Dame, die zum Ueberfluß noch die Pest hat, jammernd die Hände ringt,
links ein Gehölz, in welchem ein junges Mädchen, an einen Baum angebunden,
mit schrecklichem Wehgeschrei den Tod durch die Flammen erwartet. In der Mitte
zwei Todfeinde -- der Geliebte der Einen, der Sohn der Andern -- die an
einander schon die schändlichsten Greuelthaten ausgeübt haben, im Duell. Sie
schlagen auf einander los; der eine unterbricht sich, und fragt höhnisch: Dn! da
hinten verbrennt Deine Mutter. Willst Du sie nicht retten? -- Der Andere:
da hinten verbrennt Deine Braut! -- Eine kurze Pause, daun hauen sie wieder
wuthentbrannt auf einander los, und lassen die beiden Weiber ruhig verbrennen.
Sie hauen sich, bis sie beide halbtodt umsinken, aber auch da noch, obgleich sie
sich kaum mehr rühren können, schneidet der eine mit der letzten Kraft seiner
Sehnen noch immer dem andern ins Fleisch.--

In einem Sinn wird Victor Hugo auch principiell durch seinen Nachahmer
überboten. Er hat die Poesie des Kontrastes zu einer gewissen Totalität
abgerundet, seiue wirkliche Welt ist die umgekehrte der Idee; das Reich des Un¬
rechts und des Bösen, die Hölle. Die Tugend geht unter und das Laster trium-
phirt. Der Dichter mit seinem höheren Bewußtsein weidet sich an dem ironischen
Schauder über die Verworfenheit der Welt und die Unfähigkeit oder Bosheit des
Wesens, welchem sie ihr Dasein verdankt.

Wir können in diesem Weltschmerz, der übrigens mit unserm deutschen nichts
gemein hat, eine vollständige Stufenfolge nachweisen. -- Zuerst bleibt es bei dem
Empirischen steheu. Ich führe uur Einiges an. In einem Seeroman, la
ilumclre -- beiläufig, die Seegeschichten, die Engen Sue zum Theil aus eigner
Anschauung nacherzählt, haben für seine Phantasie den großen Reiz, daß sie
gransame Schisföcapitäne und außergewöhnliche Martern möglich machen -- ist der
scheinbare Held ein alter, edler Schiffölieutnant, der von dem Fanatismus des
Dienstes getrieben, sich selber und seine Familie in's Unglück bringt, um nur
seiner Flagge uicht die Schande zu macheu, daß es bekannt wird, er stehe unter
einem unfähigen Capitän. Zuletzt läßt er sich sogar mit einer gewissen Bosheit
hinrichten. Er wird von der Welt als Verbrecher und Bösewicht angesehen, sein
Capitän, ein alter Tabakshäudler, der vom Dienst nichts versteht, feige ist, und


populärer, pöbelhafter, und weiß durch die völlige Freiheit des Cynismus zuwei¬
len in der That eine gewisse Wirkung hervorzubringen. Das Verhältniß des
blasirten Scipio, des ganz entmenschter Wüstlings, zu seinem Vater (im Martl»)
ist von der Art, und wird durch die Reflexion um nichts erfreulicher, daß die
Originale zu dergleichen Ungeheuern sich in der That in der Pariser Gesellschaft
vorfinden. — Für das Raffinement seiner Phantasie uur ein Beispiel, aus dem
Roman 1«« einen.v LÄcluvro», dessen eigentliche Helden die Leichen Cromwell's und
Carl's I. sind, an denen Rache und Haß ihr viehisches Gelüst ausüben. Die
Schlußdecoration ein allgemeiner Brand; rechts ein Schloß, ans dessen Ballon
eine alte Dame, die zum Ueberfluß noch die Pest hat, jammernd die Hände ringt,
links ein Gehölz, in welchem ein junges Mädchen, an einen Baum angebunden,
mit schrecklichem Wehgeschrei den Tod durch die Flammen erwartet. In der Mitte
zwei Todfeinde — der Geliebte der Einen, der Sohn der Andern — die an
einander schon die schändlichsten Greuelthaten ausgeübt haben, im Duell. Sie
schlagen auf einander los; der eine unterbricht sich, und fragt höhnisch: Dn! da
hinten verbrennt Deine Mutter. Willst Du sie nicht retten? — Der Andere:
da hinten verbrennt Deine Braut! — Eine kurze Pause, daun hauen sie wieder
wuthentbrannt auf einander los, und lassen die beiden Weiber ruhig verbrennen.
Sie hauen sich, bis sie beide halbtodt umsinken, aber auch da noch, obgleich sie
sich kaum mehr rühren können, schneidet der eine mit der letzten Kraft seiner
Sehnen noch immer dem andern ins Fleisch.--

In einem Sinn wird Victor Hugo auch principiell durch seinen Nachahmer
überboten. Er hat die Poesie des Kontrastes zu einer gewissen Totalität
abgerundet, seiue wirkliche Welt ist die umgekehrte der Idee; das Reich des Un¬
rechts und des Bösen, die Hölle. Die Tugend geht unter und das Laster trium-
phirt. Der Dichter mit seinem höheren Bewußtsein weidet sich an dem ironischen
Schauder über die Verworfenheit der Welt und die Unfähigkeit oder Bosheit des
Wesens, welchem sie ihr Dasein verdankt.

Wir können in diesem Weltschmerz, der übrigens mit unserm deutschen nichts
gemein hat, eine vollständige Stufenfolge nachweisen. — Zuerst bleibt es bei dem
Empirischen steheu. Ich führe uur Einiges an. In einem Seeroman, la
ilumclre — beiläufig, die Seegeschichten, die Engen Sue zum Theil aus eigner
Anschauung nacherzählt, haben für seine Phantasie den großen Reiz, daß sie
gransame Schisföcapitäne und außergewöhnliche Martern möglich machen — ist der
scheinbare Held ein alter, edler Schiffölieutnant, der von dem Fanatismus des
Dienstes getrieben, sich selber und seine Familie in's Unglück bringt, um nur
seiner Flagge uicht die Schande zu macheu, daß es bekannt wird, er stehe unter
einem unfähigen Capitän. Zuletzt läßt er sich sogar mit einer gewissen Bosheit
hinrichten. Er wird von der Welt als Verbrecher und Bösewicht angesehen, sein
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[0094] populärer, pöbelhafter, und weiß durch die völlige Freiheit des Cynismus zuwei¬ len in der That eine gewisse Wirkung hervorzubringen. Das Verhältniß des blasirten Scipio, des ganz entmenschter Wüstlings, zu seinem Vater (im Martl») ist von der Art, und wird durch die Reflexion um nichts erfreulicher, daß die Originale zu dergleichen Ungeheuern sich in der That in der Pariser Gesellschaft vorfinden. — Für das Raffinement seiner Phantasie uur ein Beispiel, aus dem Roman 1«« einen.v LÄcluvro», dessen eigentliche Helden die Leichen Cromwell's und Carl's I. sind, an denen Rache und Haß ihr viehisches Gelüst ausüben. Die Schlußdecoration ein allgemeiner Brand; rechts ein Schloß, ans dessen Ballon eine alte Dame, die zum Ueberfluß noch die Pest hat, jammernd die Hände ringt, links ein Gehölz, in welchem ein junges Mädchen, an einen Baum angebunden, mit schrecklichem Wehgeschrei den Tod durch die Flammen erwartet. In der Mitte zwei Todfeinde — der Geliebte der Einen, der Sohn der Andern — die an einander schon die schändlichsten Greuelthaten ausgeübt haben, im Duell. Sie schlagen auf einander los; der eine unterbricht sich, und fragt höhnisch: Dn! da hinten verbrennt Deine Mutter. Willst Du sie nicht retten? — Der Andere: da hinten verbrennt Deine Braut! — Eine kurze Pause, daun hauen sie wieder wuthentbrannt auf einander los, und lassen die beiden Weiber ruhig verbrennen. Sie hauen sich, bis sie beide halbtodt umsinken, aber auch da noch, obgleich sie sich kaum mehr rühren können, schneidet der eine mit der letzten Kraft seiner Sehnen noch immer dem andern ins Fleisch.-- In einem Sinn wird Victor Hugo auch principiell durch seinen Nachahmer überboten. Er hat die Poesie des Kontrastes zu einer gewissen Totalität abgerundet, seiue wirkliche Welt ist die umgekehrte der Idee; das Reich des Un¬ rechts und des Bösen, die Hölle. Die Tugend geht unter und das Laster trium- phirt. Der Dichter mit seinem höheren Bewußtsein weidet sich an dem ironischen Schauder über die Verworfenheit der Welt und die Unfähigkeit oder Bosheit des Wesens, welchem sie ihr Dasein verdankt. Wir können in diesem Weltschmerz, der übrigens mit unserm deutschen nichts gemein hat, eine vollständige Stufenfolge nachweisen. — Zuerst bleibt es bei dem Empirischen steheu. Ich führe uur Einiges an. In einem Seeroman, la ilumclre — beiläufig, die Seegeschichten, die Engen Sue zum Theil aus eigner Anschauung nacherzählt, haben für seine Phantasie den großen Reiz, daß sie gransame Schisföcapitäne und außergewöhnliche Martern möglich machen — ist der scheinbare Held ein alter, edler Schiffölieutnant, der von dem Fanatismus des Dienstes getrieben, sich selber und seine Familie in's Unglück bringt, um nur seiner Flagge uicht die Schande zu macheu, daß es bekannt wird, er stehe unter einem unfähigen Capitän. Zuletzt läßt er sich sogar mit einer gewissen Bosheit hinrichten. Er wird von der Welt als Verbrecher und Bösewicht angesehen, sein Capitän, ein alter Tabakshäudler, der vom Dienst nichts versteht, feige ist, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/94>, abgerufen am 22.07.2024.