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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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geschichteil und socialen Contrasten in den Hintergrund drängte, waren die Franzosen
der öffentlichen Angelegenheiten müde geworden; die Criminalgeschichten wirkten
""mittelbarer aus die Phantasie, als die politischen Frigen, die nur durch den Ver¬
stand oernnttelt werden konnten, und man kam endlich dahinter, daß auch die Re¬
formen im Staat das Privatleben und seine Empfindungen zum Mittelpunkt haben
müßten. Mau würzte die alten, in tausend und aber tausend Romanen abgehandel¬
ten Probleme durch die Bitterkeit einer über die unmittelbare Anschauung hinaus¬
gehenden Tendenz, und verband in den anspruchsvollen Phantasiegemälden des
Socialismus das Nützliche mit dem Angenehmen. Man wirkte auf die Masse,
indem man sie amüsirte. Das Feuilleton -- die Referate aus den Assisen mit
eingerechnet -- wucherte so mächtig nach allen Seiten hin, daß es die Politik zu
ersticken drohte. Selbst die politische Revolution von 1848 brachte darin keine
große Veränderung hervor, weil sie gleich bei ihrem ersten Auftreten mit sociali¬
stischen, d. h. mit sentimentalen Problemen operirte.

Der Feuilletouromau war bei uns in den guten alten Zeiten der Abendzeitung
zu Hause. Die Tromlitz, Clauren, van der Velde u. s. w. haben lange vor
Engen Sue geblüht. Aber sie haben es nicht zu dieser Konsequenz gebracht.
Auch in England erscheinen seit Dickens die beliebtesten Romane stückweise, in
Heften. Aber es ist doch hier ein großer Unterschied. Einmal in der Quantität.
Ein englisches Heft nimmt immer einen wesentlich großem Umfang ein,- als das
Feuilleton eines Pariser Journals, und verstattet und erfordert eine größere
Sammlung. Aber die Hauptsache ist die verschiedene Art des Producirens bei
beiden Völkern. Der Brite mit seinem scharfen Ange für das Detail, seinem, be¬
haglichen Humor und seiner reichen Gemüthswelt, vergißt über dem Geplauder an
dem Kaminfeuer, über deu Späßen mit seinen lustigen und immer originellen
Nachbarn ganz und gar das verehrinlgswürdige Publicum, das er unterhalten soll;
er ist ohnehin nicht reich in der Erfindung von Intriguen, und in der Kunst der
Spannung wenig zu Hause. Der Franzose dagegen ist Schauspieler mich in
seinen einfachsten Geschichten, eS ist ihm nicht möglich, zu erzählen, ohne auf den
Effect hinzuarbeiten. Bei einem jeden Capitel, welches die angemessenen Spalten
des Feuilletons ausfüllt, ist also sein, hauptsächlicher Zweck, zum Schluß etwas
Ungeheuerliches, Unbegreifliches eintreten zu lassen, welches die Neugierde in eine
fieberhafte Spannung versetzt. Er nimmt es nicht genau damit, wie diese Span¬
nung später zu lösen sein wird; denn bei der neuen Schluß-Spannung, die im
folgenden Capitel nothwendig eintritt, läßt man sich es gefallen, wenn man mit
der Entwickelung der vorigen auf spätere Nummern vertröstet wird. Keinem wi¬
derfährt es so häufig, als Eugen Sue, daß er vollständig vergißt, was er früher
erzählt, motivirt, zur Entwickelung reif gemacht hat. Von einem innern Zusam¬
menhang seiner Geschichte", gar vou einer Oekonomie in den Verhältnissen ist keine
Rede. ES sind eine Reihe von Schluß-Effecten, die durch ziemlich langweilige,


geschichteil und socialen Contrasten in den Hintergrund drängte, waren die Franzosen
der öffentlichen Angelegenheiten müde geworden; die Criminalgeschichten wirkten
«»mittelbarer aus die Phantasie, als die politischen Frigen, die nur durch den Ver¬
stand oernnttelt werden konnten, und man kam endlich dahinter, daß auch die Re¬
formen im Staat das Privatleben und seine Empfindungen zum Mittelpunkt haben
müßten. Mau würzte die alten, in tausend und aber tausend Romanen abgehandel¬
ten Probleme durch die Bitterkeit einer über die unmittelbare Anschauung hinaus¬
gehenden Tendenz, und verband in den anspruchsvollen Phantasiegemälden des
Socialismus das Nützliche mit dem Angenehmen. Man wirkte auf die Masse,
indem man sie amüsirte. Das Feuilleton — die Referate aus den Assisen mit
eingerechnet — wucherte so mächtig nach allen Seiten hin, daß es die Politik zu
ersticken drohte. Selbst die politische Revolution von 1848 brachte darin keine
große Veränderung hervor, weil sie gleich bei ihrem ersten Auftreten mit sociali¬
stischen, d. h. mit sentimentalen Problemen operirte.

Der Feuilletouromau war bei uns in den guten alten Zeiten der Abendzeitung
zu Hause. Die Tromlitz, Clauren, van der Velde u. s. w. haben lange vor
Engen Sue geblüht. Aber sie haben es nicht zu dieser Konsequenz gebracht.
Auch in England erscheinen seit Dickens die beliebtesten Romane stückweise, in
Heften. Aber es ist doch hier ein großer Unterschied. Einmal in der Quantität.
Ein englisches Heft nimmt immer einen wesentlich großem Umfang ein,- als das
Feuilleton eines Pariser Journals, und verstattet und erfordert eine größere
Sammlung. Aber die Hauptsache ist die verschiedene Art des Producirens bei
beiden Völkern. Der Brite mit seinem scharfen Ange für das Detail, seinem, be¬
haglichen Humor und seiner reichen Gemüthswelt, vergißt über dem Geplauder an
dem Kaminfeuer, über deu Späßen mit seinen lustigen und immer originellen
Nachbarn ganz und gar das verehrinlgswürdige Publicum, das er unterhalten soll;
er ist ohnehin nicht reich in der Erfindung von Intriguen, und in der Kunst der
Spannung wenig zu Hause. Der Franzose dagegen ist Schauspieler mich in
seinen einfachsten Geschichten, eS ist ihm nicht möglich, zu erzählen, ohne auf den
Effect hinzuarbeiten. Bei einem jeden Capitel, welches die angemessenen Spalten
des Feuilletons ausfüllt, ist also sein, hauptsächlicher Zweck, zum Schluß etwas
Ungeheuerliches, Unbegreifliches eintreten zu lassen, welches die Neugierde in eine
fieberhafte Spannung versetzt. Er nimmt es nicht genau damit, wie diese Span¬
nung später zu lösen sein wird; denn bei der neuen Schluß-Spannung, die im
folgenden Capitel nothwendig eintritt, läßt man sich es gefallen, wenn man mit
der Entwickelung der vorigen auf spätere Nummern vertröstet wird. Keinem wi¬
derfährt es so häufig, als Eugen Sue, daß er vollständig vergißt, was er früher
erzählt, motivirt, zur Entwickelung reif gemacht hat. Von einem innern Zusam¬
menhang seiner Geschichte», gar vou einer Oekonomie in den Verhältnissen ist keine
Rede. ES sind eine Reihe von Schluß-Effecten, die durch ziemlich langweilige,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/90>, abgerufen am 22.07.2024.