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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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schichtlicher Individualitäten in den Fluß schattenhafter Begriffe, wie Sage, Tra¬
dition, Mythe u. s. w., sondern auch die Methode: die Ordnung des Materials
nach einer bestimmten, vor Beendigung der Untersuchung fertigen Voraussetzung:
aber zu diesem letzter" Tadel nimmt er nnr den Anlauf, und lehrt sofort zu seinen
Gemüthskrämpfeil zurück; er klagt über das Attentat gegen die Existenz des
persönlichen Homer, des geschichtliche" Rom, deö historischen Christus, und verfällt
in den Fehler weicher Seelen, was ihnen nicht gefällt, durch die bloße Aeußerung
ihres Mißvergnügens widerlegen zu wolle".

Die moderne Religiosität der Franzosen hat eine" eigene" Beischiuack von
ungewollten Humor. "Selig! rief es in mir, als ich Rom verließ, selig, die da
glauben! -- Kann denn Rom untergehen? Ist es vorbei mit dem Glauben
unserer Bäter? Habe ich hier nur ein Phantom gesehen, eine Ruine a"f einer
Ruine, oder ist es mein Herz, welches gestorben ist? . . . Ein Pilger des Zwei¬
fels, habe ich gethan wie die Pilger des Glaubens, ich habe Gräber besucht, ich
habe in den Katakomben die Gebeine der Märtyrer berührt. Die Vorübergehen¬
de" hätten mich für eine" treuen Sohn der Kirche nehme" könne". Aber wäh¬
rend sie andächtig waren, lauschte ich, während sie anbetete", suchte ich anzubeten,
und -als ich mich gleich ihnen niederwarf, hielt mein rebellischer Geist sich aufrecht,
mitten in der Kirche, im Angesicht der Hostie. Ich hätte, gleich vielen andern,
das Wohlgefalle" meiner Phantasie, die Bewegungen meiner Einbildung, für Zei¬
chen des Glaubens nehmen können. Aber diese Selbsttäuschung ist viel unheiliger
als die Blasphemie. Zwischen dem Pocke", welcher träumt, und dem Gläubigen,
welcher anbetet, ist eine unermeßliche Kluft. Lieber will ich nichts glaube", "indes
lieben, als halb glauben, halb lieben. -- Ich glaube nicht an Dich, Königin alles
Glaubens; aber ich bete Dich an, Mutter aller Schönheit. Du bist für mich die
ewige Madonna, die ans den Ruinen sitzt und am Fuße des Kreuzes weint.
Deiner beraubt, ist mei" Herz leerer als die Maremme, meine Wüste größer
als Deine Wüste von den Appenuine" bis aus User des Meeres."

A"s diesem Gefühl der Unfähigkeit, auf eigue" Fuße" zu stehen, ist bei den
neuer" Franzosen auch der unglaubliche Haß 'gegen ihre Lehrer, die ihnen den
Glauben genommen haben, zu erklären. Bei einem der leidenschaftlichsten unter
ihnen, Alfred de Müsset, kommen wir noch einmal daraus zurück. -- Als Quiuet
über "das Leben Jesu" die Hände ringt, bricht er in folgenden Dithyrambus aus:
"O großer, mächtiger, burlesker Proteus, höllischer Voltaire; was denkst Du
ni'er diesen Su"de"sall i" das Grab el"es Pa"theo"s? Nach so viel Attstreiig-
uuge" ist auch das poetische, das religiöse Deutschland in Deine Hände gefallen,
und Satans schwarze Krallen sesseln die Schwingen des Engels Abbadonna! Bist
Dn es nicht, der i" dieser ne"e" Form ans dem Grabe wieder aufsteht, und um
besser die Welt zu betrügen, sich in die blonde Jungfräulichkeit der dentschen
Wissenschaft versteckt? Wohin fliehen?, wo sich verbergen? wo sich retten? Es


schichtlicher Individualitäten in den Fluß schattenhafter Begriffe, wie Sage, Tra¬
dition, Mythe u. s. w., sondern auch die Methode: die Ordnung des Materials
nach einer bestimmten, vor Beendigung der Untersuchung fertigen Voraussetzung:
aber zu diesem letzter» Tadel nimmt er nnr den Anlauf, und lehrt sofort zu seinen
Gemüthskrämpfeil zurück; er klagt über das Attentat gegen die Existenz des
persönlichen Homer, des geschichtliche» Rom, deö historischen Christus, und verfällt
in den Fehler weicher Seelen, was ihnen nicht gefällt, durch die bloße Aeußerung
ihres Mißvergnügens widerlegen zu wolle».

Die moderne Religiosität der Franzosen hat eine» eigene» Beischiuack von
ungewollten Humor. „Selig! rief es in mir, als ich Rom verließ, selig, die da
glauben! — Kann denn Rom untergehen? Ist es vorbei mit dem Glauben
unserer Bäter? Habe ich hier nur ein Phantom gesehen, eine Ruine a»f einer
Ruine, oder ist es mein Herz, welches gestorben ist? . . . Ein Pilger des Zwei¬
fels, habe ich gethan wie die Pilger des Glaubens, ich habe Gräber besucht, ich
habe in den Katakomben die Gebeine der Märtyrer berührt. Die Vorübergehen¬
de» hätten mich für eine» treuen Sohn der Kirche nehme» könne». Aber wäh¬
rend sie andächtig waren, lauschte ich, während sie anbetete», suchte ich anzubeten,
und -als ich mich gleich ihnen niederwarf, hielt mein rebellischer Geist sich aufrecht,
mitten in der Kirche, im Angesicht der Hostie. Ich hätte, gleich vielen andern,
das Wohlgefalle» meiner Phantasie, die Bewegungen meiner Einbildung, für Zei¬
chen des Glaubens nehmen können. Aber diese Selbsttäuschung ist viel unheiliger
als die Blasphemie. Zwischen dem Pocke», welcher träumt, und dem Gläubigen,
welcher anbetet, ist eine unermeßliche Kluft. Lieber will ich nichts glaube», »indes
lieben, als halb glauben, halb lieben. — Ich glaube nicht an Dich, Königin alles
Glaubens; aber ich bete Dich an, Mutter aller Schönheit. Du bist für mich die
ewige Madonna, die ans den Ruinen sitzt und am Fuße des Kreuzes weint.
Deiner beraubt, ist mei» Herz leerer als die Maremme, meine Wüste größer
als Deine Wüste von den Appenuine» bis aus User des Meeres."

A»s diesem Gefühl der Unfähigkeit, auf eigue» Fuße» zu stehen, ist bei den
neuer» Franzosen auch der unglaubliche Haß 'gegen ihre Lehrer, die ihnen den
Glauben genommen haben, zu erklären. Bei einem der leidenschaftlichsten unter
ihnen, Alfred de Müsset, kommen wir noch einmal daraus zurück. — Als Quiuet
über „das Leben Jesu" die Hände ringt, bricht er in folgenden Dithyrambus aus:
„O großer, mächtiger, burlesker Proteus, höllischer Voltaire; was denkst Du
ni'er diesen Su»de»sall i» das Grab el»es Pa»theo»s? Nach so viel Attstreiig-
uuge» ist auch das poetische, das religiöse Deutschland in Deine Hände gefallen,
und Satans schwarze Krallen sesseln die Schwingen des Engels Abbadonna! Bist
Dn es nicht, der i» dieser ne»e» Form ans dem Grabe wieder aufsteht, und um
besser die Welt zu betrügen, sich in die blonde Jungfräulichkeit der dentschen
Wissenschaft versteckt? Wohin fliehen?, wo sich verbergen? wo sich retten? Es


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/56>, abgerufen am 22.07.2024.