Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

wurde, war der Hosschulze in Immermann's Münchhausen. Hier treffen sich die
absterbende Literatur und die neu aufgehende in unmittelbarer Berührung. Im
Münchhausen selbst ist die glaubenlose Einöde der NcstaurationS-Literatur, dieses
lügenhafte Wesen, das seiue eigne Unwahrheit nicht einmal mehr empfindet, weil
es gelernt hat, sich dnrch ein einfaches Raisonnement des Gedankens der Wirk¬
lichkeit zu entledigen, in einer Figur dargestellt, die als Sammlung satyrischer
Ausfälle vortrefflich ist, als Ganzes aber ebenso verzerrt, leer und sinnlos als ihr
Gegenstand. Als Gegenbild nun' ist dieser Figur die derbe, handfeste Gestalt
eines westphälischen Bauern an die Seite gestellt, der in seinem beschränkten
Kreise so vollständig zu Hause ist, daß er nicht im Stande ist, darüber hinaus
zu empfinden. Hier die harte, knöcherne Empirie, die der Cultur unfähig ist;
dort die wesenlose Abstraction einer zersetzenden Uebercultnr.

Der Gegensatz ist artig erdacht, er leidet nnr an dem Uebelstand seines Ur¬
sprungs, er gehört der Reflexion und dem Witz an, nicht der Empfindung, nicht
der Natur.

Seitdem hat die Literatur eine naturwüchsige Gestalt nach der andern auf
die Bühne gebracht, in der Regel aus dem Bauernstande, weil hier die Einheit
mit der Natur am wenigsten gelöst ist. Berthold An erd ach, der in seinen
früheren Dorfgeschichten beim einfachen Idyll stehen blieb, hat sich in der "Fran
Professorin" eine ähnliche Aufgabe gestellt, wie Immermann in seinem Münch-
hausen: auf der einen Seite die Träger einer überreifen Bildung, die sich aus
sich selbst heraus und nach der Natur zurücksehnen, Reinhold und der Kvhle-
brater; aus der andern das Lorle, die reine, in sich selbst sichere Natur, die mit
jenen in eine schmerzhafte Berührung gebracht wird. Die Lösung ist Flucht, die
beiden fremden Welten verstehen sich nicht, sie müssen wieder ans einander.
Frau Birch hat diesen Gegensatz in der rohen Form von "Stadt und Land" beim
deutsche" Publikum popularisirt.

In all diesen Dichtungen ist die Natur, wie in der Zeit unserer Sturm- und
Drangperwde, das Ideal, nach welchem sich die erschöpfte Cultur, das durch laby¬
rinthische Reflexionen bedrängte Herz zurücksehnt.--Jeremias Gott helf, in
der Reihe dieser Genremaler einer der vorzüglichsten, faßt die Natur von einem
andern Gesichtspunkt.

Der Schweizer hat nicht nöthig, den Somnambulismus unserer Moudschcin-
dichtuug und die grauen Spinnweben uuserer Dialektik von sich abzuschütteln; der
überreizten Empfindsamkeit und der glaubenlosen Sophistik gegenüber ist er noch
naiv. Vor der Blasirtheit hat ihn die sreie Lust seiner Alpen bewahrt. Der Feind,
gegen den er seiue Natur bewaffnet, erscheint ihm in einer andern Form, in der
Form des politischen und religiösen Radicalismus.

Diesem Feinde gegenüber nimmt er die Natur, nicht wie sie ist, in Schutz;
sie ist ihm kein Götze, vor dessen fertigen Bilde er sich in den Staub wirst; er


62 *

wurde, war der Hosschulze in Immermann's Münchhausen. Hier treffen sich die
absterbende Literatur und die neu aufgehende in unmittelbarer Berührung. Im
Münchhausen selbst ist die glaubenlose Einöde der NcstaurationS-Literatur, dieses
lügenhafte Wesen, das seiue eigne Unwahrheit nicht einmal mehr empfindet, weil
es gelernt hat, sich dnrch ein einfaches Raisonnement des Gedankens der Wirk¬
lichkeit zu entledigen, in einer Figur dargestellt, die als Sammlung satyrischer
Ausfälle vortrefflich ist, als Ganzes aber ebenso verzerrt, leer und sinnlos als ihr
Gegenstand. Als Gegenbild nun' ist dieser Figur die derbe, handfeste Gestalt
eines westphälischen Bauern an die Seite gestellt, der in seinem beschränkten
Kreise so vollständig zu Hause ist, daß er nicht im Stande ist, darüber hinaus
zu empfinden. Hier die harte, knöcherne Empirie, die der Cultur unfähig ist;
dort die wesenlose Abstraction einer zersetzenden Uebercultnr.

Der Gegensatz ist artig erdacht, er leidet nnr an dem Uebelstand seines Ur¬
sprungs, er gehört der Reflexion und dem Witz an, nicht der Empfindung, nicht
der Natur.

Seitdem hat die Literatur eine naturwüchsige Gestalt nach der andern auf
die Bühne gebracht, in der Regel aus dem Bauernstande, weil hier die Einheit
mit der Natur am wenigsten gelöst ist. Berthold An erd ach, der in seinen
früheren Dorfgeschichten beim einfachen Idyll stehen blieb, hat sich in der „Fran
Professorin" eine ähnliche Aufgabe gestellt, wie Immermann in seinem Münch-
hausen: auf der einen Seite die Träger einer überreifen Bildung, die sich aus
sich selbst heraus und nach der Natur zurücksehnen, Reinhold und der Kvhle-
brater; aus der andern das Lorle, die reine, in sich selbst sichere Natur, die mit
jenen in eine schmerzhafte Berührung gebracht wird. Die Lösung ist Flucht, die
beiden fremden Welten verstehen sich nicht, sie müssen wieder ans einander.
Frau Birch hat diesen Gegensatz in der rohen Form von „Stadt und Land" beim
deutsche» Publikum popularisirt.

In all diesen Dichtungen ist die Natur, wie in der Zeit unserer Sturm- und
Drangperwde, das Ideal, nach welchem sich die erschöpfte Cultur, das durch laby¬
rinthische Reflexionen bedrängte Herz zurücksehnt.—Jeremias Gott helf, in
der Reihe dieser Genremaler einer der vorzüglichsten, faßt die Natur von einem
andern Gesichtspunkt.

Der Schweizer hat nicht nöthig, den Somnambulismus unserer Moudschcin-
dichtuug und die grauen Spinnweben uuserer Dialektik von sich abzuschütteln; der
überreizten Empfindsamkeit und der glaubenlosen Sophistik gegenüber ist er noch
naiv. Vor der Blasirtheit hat ihn die sreie Lust seiner Alpen bewahrt. Der Feind,
gegen den er seiue Natur bewaffnet, erscheint ihm in einer andern Form, in der
Form des politischen und religiösen Radicalismus.

Diesem Feinde gegenüber nimmt er die Natur, nicht wie sie ist, in Schutz;
sie ist ihm kein Götze, vor dessen fertigen Bilde er sich in den Staub wirst; er


62 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0499" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/185836"/>
          <p xml:id="ID_1929" prev="#ID_1928"> wurde, war der Hosschulze in Immermann's Münchhausen. Hier treffen sich die<lb/>
absterbende Literatur und die neu aufgehende in unmittelbarer Berührung. Im<lb/>
Münchhausen selbst ist die glaubenlose Einöde der NcstaurationS-Literatur, dieses<lb/>
lügenhafte Wesen, das seiue eigne Unwahrheit nicht einmal mehr empfindet, weil<lb/>
es gelernt hat, sich dnrch ein einfaches Raisonnement des Gedankens der Wirk¬<lb/>
lichkeit zu entledigen, in einer Figur dargestellt, die als Sammlung satyrischer<lb/>
Ausfälle vortrefflich ist, als Ganzes aber ebenso verzerrt, leer und sinnlos als ihr<lb/>
Gegenstand. Als Gegenbild nun' ist dieser Figur die derbe, handfeste Gestalt<lb/>
eines westphälischen Bauern an die Seite gestellt, der in seinem beschränkten<lb/>
Kreise so vollständig zu Hause ist, daß er nicht im Stande ist, darüber hinaus<lb/>
zu empfinden. Hier die harte, knöcherne Empirie, die der Cultur unfähig ist;<lb/>
dort die wesenlose Abstraction einer zersetzenden Uebercultnr.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1930"> Der Gegensatz ist artig erdacht, er leidet nnr an dem Uebelstand seines Ur¬<lb/>
sprungs, er gehört der Reflexion und dem Witz an, nicht der Empfindung, nicht<lb/>
der Natur.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1931"> Seitdem hat die Literatur eine naturwüchsige Gestalt nach der andern auf<lb/>
die Bühne gebracht, in der Regel aus dem Bauernstande, weil hier die Einheit<lb/>
mit der Natur am wenigsten gelöst ist. Berthold An erd ach, der in seinen<lb/>
früheren Dorfgeschichten beim einfachen Idyll stehen blieb, hat sich in der &#x201E;Fran<lb/>
Professorin" eine ähnliche Aufgabe gestellt, wie Immermann in seinem Münch-<lb/>
hausen: auf der einen Seite die Träger einer überreifen Bildung, die sich aus<lb/>
sich selbst heraus und nach der Natur zurücksehnen, Reinhold und der Kvhle-<lb/>
brater; aus der andern das Lorle, die reine, in sich selbst sichere Natur, die mit<lb/>
jenen in eine schmerzhafte Berührung gebracht wird. Die Lösung ist Flucht, die<lb/>
beiden fremden Welten verstehen sich nicht, sie müssen wieder ans einander.<lb/>
Frau Birch hat diesen Gegensatz in der rohen Form von &#x201E;Stadt und Land" beim<lb/>
deutsche» Publikum popularisirt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1932"> In all diesen Dichtungen ist die Natur, wie in der Zeit unserer Sturm- und<lb/>
Drangperwde, das Ideal, nach welchem sich die erschöpfte Cultur, das durch laby¬<lb/>
rinthische Reflexionen bedrängte Herz zurücksehnt.&#x2014;Jeremias Gott helf, in<lb/>
der Reihe dieser Genremaler einer der vorzüglichsten, faßt die Natur von einem<lb/>
andern Gesichtspunkt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1933"> Der Schweizer hat nicht nöthig, den Somnambulismus unserer Moudschcin-<lb/>
dichtuug und die grauen Spinnweben uuserer Dialektik von sich abzuschütteln; der<lb/>
überreizten Empfindsamkeit und der glaubenlosen Sophistik gegenüber ist er noch<lb/>
naiv. Vor der Blasirtheit hat ihn die sreie Lust seiner Alpen bewahrt. Der Feind,<lb/>
gegen den er seiue Natur bewaffnet, erscheint ihm in einer andern Form, in der<lb/>
Form des politischen und religiösen Radicalismus.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1934" next="#ID_1935"> Diesem Feinde gegenüber nimmt er die Natur, nicht wie sie ist, in Schutz;<lb/>
sie ist ihm kein Götze, vor dessen fertigen Bilde er sich in den Staub wirst; er</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 62 *</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0499] wurde, war der Hosschulze in Immermann's Münchhausen. Hier treffen sich die absterbende Literatur und die neu aufgehende in unmittelbarer Berührung. Im Münchhausen selbst ist die glaubenlose Einöde der NcstaurationS-Literatur, dieses lügenhafte Wesen, das seiue eigne Unwahrheit nicht einmal mehr empfindet, weil es gelernt hat, sich dnrch ein einfaches Raisonnement des Gedankens der Wirk¬ lichkeit zu entledigen, in einer Figur dargestellt, die als Sammlung satyrischer Ausfälle vortrefflich ist, als Ganzes aber ebenso verzerrt, leer und sinnlos als ihr Gegenstand. Als Gegenbild nun' ist dieser Figur die derbe, handfeste Gestalt eines westphälischen Bauern an die Seite gestellt, der in seinem beschränkten Kreise so vollständig zu Hause ist, daß er nicht im Stande ist, darüber hinaus zu empfinden. Hier die harte, knöcherne Empirie, die der Cultur unfähig ist; dort die wesenlose Abstraction einer zersetzenden Uebercultnr. Der Gegensatz ist artig erdacht, er leidet nnr an dem Uebelstand seines Ur¬ sprungs, er gehört der Reflexion und dem Witz an, nicht der Empfindung, nicht der Natur. Seitdem hat die Literatur eine naturwüchsige Gestalt nach der andern auf die Bühne gebracht, in der Regel aus dem Bauernstande, weil hier die Einheit mit der Natur am wenigsten gelöst ist. Berthold An erd ach, der in seinen früheren Dorfgeschichten beim einfachen Idyll stehen blieb, hat sich in der „Fran Professorin" eine ähnliche Aufgabe gestellt, wie Immermann in seinem Münch- hausen: auf der einen Seite die Träger einer überreifen Bildung, die sich aus sich selbst heraus und nach der Natur zurücksehnen, Reinhold und der Kvhle- brater; aus der andern das Lorle, die reine, in sich selbst sichere Natur, die mit jenen in eine schmerzhafte Berührung gebracht wird. Die Lösung ist Flucht, die beiden fremden Welten verstehen sich nicht, sie müssen wieder ans einander. Frau Birch hat diesen Gegensatz in der rohen Form von „Stadt und Land" beim deutsche» Publikum popularisirt. In all diesen Dichtungen ist die Natur, wie in der Zeit unserer Sturm- und Drangperwde, das Ideal, nach welchem sich die erschöpfte Cultur, das durch laby¬ rinthische Reflexionen bedrängte Herz zurücksehnt.—Jeremias Gott helf, in der Reihe dieser Genremaler einer der vorzüglichsten, faßt die Natur von einem andern Gesichtspunkt. Der Schweizer hat nicht nöthig, den Somnambulismus unserer Moudschcin- dichtuug und die grauen Spinnweben uuserer Dialektik von sich abzuschütteln; der überreizten Empfindsamkeit und der glaubenlosen Sophistik gegenüber ist er noch naiv. Vor der Blasirtheit hat ihn die sreie Lust seiner Alpen bewahrt. Der Feind, gegen den er seiue Natur bewaffnet, erscheint ihm in einer andern Form, in der Form des politischen und religiösen Radicalismus. Diesem Feinde gegenüber nimmt er die Natur, nicht wie sie ist, in Schutz; sie ist ihm kein Götze, vor dessen fertigen Bilde er sich in den Staub wirst; er 62 *

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/499
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/499>, abgerufen am 22.07.2024.