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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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zur herrschenden Gesellschaft suchen, Marinelli, der Prinz, die Banditen, Orsina,
anch der Rath, auch der Maler, auch Claudia; und die Gruppe der isolirten
Tugendhaften, der Idealisten, die sich aus dein Leben der Gesellschaft zurückziehn,
weil diese ihren Ideale", widerspricht: Odoardo, Emilia, Appiani.

Die erste Gruppe ist durch und durch meisterhaft dargestellt; die zweite, so¬
viel Kunst und poetische Kraft aus ihre Darstellung gewendet ist, ist verfehlt.

Ich gehe gleich aufs Einzelne ein.

Wer noch irgend ein gesundes Gefühl in sich trägt, muß über die That,
welche deu Knoten des Stücks zerhaue, schaudern; nicht mit jenem tragischen
Schauder, der uns erhebt und erhöht, indem er "us erschüttert, sondern mit jenem
kalten Schauder, der uns verwirrt, uns in Furcht setzt, weil er aus etwas Frem¬
dem, Unheimlichem, Gespenstischem entspringt. Die Ermordung der Emilia ist
weder durch das sittliche Gefühl noch durch die Leidenschaft motivirt.

Man muß dabei nnr Zweierlei im Auge behalten. Odoardo ist keineswegs
ein Calderonscher Vater, der sämmtliche Stichwörter im Katechismus der Ehre
auswendig kann, und vollkommen beruhigt ist, wenn er aus das jedesmalige Stich¬
wort mit seiner Rolle einfällt. Ein Calderonscher, katholischer Vater würde schon
durch den Schein die Ehre seines Hauses verletzt fühlen. Emilia kommt in ein
schlechtes Hans, was dort mit ihr geschieht, ist gleichgiltig, ihren guten Ruf ver¬
liert sie unbedingt; diesen Makel der Ehre kann nur Blut abivaschen, also frisch
ihr den Dolch in das Herz gestoßen, abgewischt und dann ruhig frühstücken ge¬
gangen, als ob nichts erhebliches vorgefallen wäre. So würde der Spanier,
unter Umständen auch der Franzose, empfinden; der Germane, der Protestant em¬
pfindet anders. -- Odoardo'S Zweck ist uicht einmal Rache, wenigstens uicht
direct; den Mörder Nppiani's überläßt er einem "höhern Rächer", er will nur
künftigem Unheil vorbeugen.

Ferner. Die Gesellschaft, gegen welche der Tugendhafte zu kämpfen hat, ist
keineswegs in einem solchen Zustande der Fäulniß, daß innerhalb ihrer Formen
dein Recht nicht Geltung zu schaffen wäre. Unter einem Nero, in einem Reich
der absolute" Willkühr, das mit dem Guten auch im Princip gebrochen, das den
Unterschied zwischen Recht und Unrecht vollkommen verloren hat -- in einem solchen
Reiche kauu der Tugendhafte seinerseits sich nur durch absolute Willkühr, durch
unbedingte Autonomie geltend machen. Selbstmord, Meuchelmord ze. sind an der
Tagesordnung; eine allgemeine Maxime des Handelns kaun es nicht geben. Ein.
solches Reich -- das übrigens als Grundlage eines Dramas vollkommen un¬
brauchbar wäre, weil nur in dein Conflict sittlicher Pflichten eine dramatische
Handlung sich eutivickeln kauu -- ist das Guastalla unsers Dichters keineswegs.
Die Willkühr des Mächtigen wagt noch uicht, de" Schein zu verletzen, Räthe, wie
Camillo Nota, haben noch Einfluß, die Liederlichkeit des Prinzen und seiner Rath-
geber befleckt zwar das Privatleben dnrch böses Beispiel, aber sie zerstört uicht


Grenzboten II, 1L50. 59

zur herrschenden Gesellschaft suchen, Marinelli, der Prinz, die Banditen, Orsina,
anch der Rath, auch der Maler, auch Claudia; und die Gruppe der isolirten
Tugendhaften, der Idealisten, die sich aus dein Leben der Gesellschaft zurückziehn,
weil diese ihren Ideale», widerspricht: Odoardo, Emilia, Appiani.

Die erste Gruppe ist durch und durch meisterhaft dargestellt; die zweite, so¬
viel Kunst und poetische Kraft aus ihre Darstellung gewendet ist, ist verfehlt.

Ich gehe gleich aufs Einzelne ein.

Wer noch irgend ein gesundes Gefühl in sich trägt, muß über die That,
welche deu Knoten des Stücks zerhaue, schaudern; nicht mit jenem tragischen
Schauder, der uns erhebt und erhöht, indem er »us erschüttert, sondern mit jenem
kalten Schauder, der uns verwirrt, uns in Furcht setzt, weil er aus etwas Frem¬
dem, Unheimlichem, Gespenstischem entspringt. Die Ermordung der Emilia ist
weder durch das sittliche Gefühl noch durch die Leidenschaft motivirt.

Man muß dabei nnr Zweierlei im Auge behalten. Odoardo ist keineswegs
ein Calderonscher Vater, der sämmtliche Stichwörter im Katechismus der Ehre
auswendig kann, und vollkommen beruhigt ist, wenn er aus das jedesmalige Stich¬
wort mit seiner Rolle einfällt. Ein Calderonscher, katholischer Vater würde schon
durch den Schein die Ehre seines Hauses verletzt fühlen. Emilia kommt in ein
schlechtes Hans, was dort mit ihr geschieht, ist gleichgiltig, ihren guten Ruf ver¬
liert sie unbedingt; diesen Makel der Ehre kann nur Blut abivaschen, also frisch
ihr den Dolch in das Herz gestoßen, abgewischt und dann ruhig frühstücken ge¬
gangen, als ob nichts erhebliches vorgefallen wäre. So würde der Spanier,
unter Umständen auch der Franzose, empfinden; der Germane, der Protestant em¬
pfindet anders. — Odoardo'S Zweck ist uicht einmal Rache, wenigstens uicht
direct; den Mörder Nppiani's überläßt er einem „höhern Rächer", er will nur
künftigem Unheil vorbeugen.

Ferner. Die Gesellschaft, gegen welche der Tugendhafte zu kämpfen hat, ist
keineswegs in einem solchen Zustande der Fäulniß, daß innerhalb ihrer Formen
dein Recht nicht Geltung zu schaffen wäre. Unter einem Nero, in einem Reich
der absolute» Willkühr, das mit dem Guten auch im Princip gebrochen, das den
Unterschied zwischen Recht und Unrecht vollkommen verloren hat — in einem solchen
Reiche kauu der Tugendhafte seinerseits sich nur durch absolute Willkühr, durch
unbedingte Autonomie geltend machen. Selbstmord, Meuchelmord ze. sind an der
Tagesordnung; eine allgemeine Maxime des Handelns kaun es nicht geben. Ein.
solches Reich — das übrigens als Grundlage eines Dramas vollkommen un¬
brauchbar wäre, weil nur in dein Conflict sittlicher Pflichten eine dramatische
Handlung sich eutivickeln kauu — ist das Guastalla unsers Dichters keineswegs.
Die Willkühr des Mächtigen wagt noch uicht, de» Schein zu verletzen, Räthe, wie
Camillo Nota, haben noch Einfluß, die Liederlichkeit des Prinzen und seiner Rath-
geber befleckt zwar das Privatleben dnrch böses Beispiel, aber sie zerstört uicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/473>, abgerufen am 22.07.2024.