Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.Einerseits ist das schon ein großes Lob. Ein Stück, in welchem sich ein Aber der Tadel, der mittelbar in jenem Urtheil enthalten sein soll, trifft anch Außerdem siud die Charaktere keineswegs bloße Productionen des Verstan¬ Der Grundfehler des Stückes liegt uicht in der poetischen Darstellung. Ich Der Fehler liegt tiefer; er liegt in der sittlichen Basis des Stücks, in der Um dies deutlicher zu machen, sondern wir die im Stück beschäftigten Per¬ Einerseits ist das schon ein großes Lob. Ein Stück, in welchem sich ein Aber der Tadel, der mittelbar in jenem Urtheil enthalten sein soll, trifft anch Außerdem siud die Charaktere keineswegs bloße Productionen des Verstan¬ Der Grundfehler des Stückes liegt uicht in der poetischen Darstellung. Ich Der Fehler liegt tiefer; er liegt in der sittlichen Basis des Stücks, in der Um dies deutlicher zu machen, sondern wir die im Stück beschäftigten Per¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0472" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/185809"/> <p xml:id="ID_1808"> Einerseits ist das schon ein großes Lob. Ein Stück, in welchem sich ein<lb/> von allen Seiten vorbereiteter ergreifender Moment nicht vorfindet, in welchen:<lb/> man ausrufen muß: Schach dem .Könige! Ein solches Stück wird als Kunstwerk<lb/> nicht viel werth sein.</p><lb/> <p xml:id="ID_1809"> Aber der Tadel, der mittelbar in jenem Urtheil enthalten sein soll, trifft anch<lb/> nicht einmal. Wenn es auch möglich wäre, daß der bloß kritische Verstand allein<lb/> ausreicht, eine Handlung zu erfinden, in welcher ein Rad in das andere mit<lb/> strenger Nothwendigkeit eingreift, nud jedes einem allgemeinen Zwecke dienen muß;<lb/> Charaktere zu erfinden, die eine logische Entwickelung nicht nnr andeuten, sondern<lb/> anch ausdrücken — eine Möglichkeit, die ich bestreite, denn es ist das bereits ein<lb/> wesentlicher Theil der schöpferischen, wenn man nicht sagen will, poetischen Kraft,<lb/> bei welchem Ausdruck sich überhaupt soviel und so wenig deuten läßt, als man gerade<lb/> Lust hat; wenn aber alles das möglich wäre, so ist damit Lessing's Verdienst noch<lb/> lange nicht erschöpft. Denn nicht allein die Zeichnung dieses Gemäldes in der<lb/> Strenge ihrer anatomischen Verhältnisse ist bewundernswerth, sondern vor Allem<lb/> die Farbe. Die Logik der Entwickelung, die Steigerung, die Spannung, liegt uicht<lb/> bloß in den Thatsachen, sondern in der künstlerischen Composition der verschiedenen<lb/> Stimmungen und Empfindungen; eine Composition, die eine höhere Seelenkraft<lb/> in Anwendung bringt, als deu scheidenden Verstand.</p><lb/> <p xml:id="ID_1810"> Außerdem siud die Charaktere keineswegs bloße Productionen des Verstan¬<lb/> des. Um uur ein Beispiel anzuführen, die Leidenschaft der Orsina in ihrer Will-<lb/> kühr, in ihren Sprüngen, in ihrem halben Wahnsinn wäre eines Shakespeare nicht<lb/> unwürdig, und wer nicht als reines Kind in dem ersten ABC des romantischen<lb/> Katechismus stecken geblieben ist, muß heraus sühlen, daß wenn man diese einzige<lb/> Scene der Orsina in die eine Wagschale legt, und die sämmtlichen Werte der<lb/> Berliner romantischen Schule, nebst sämmtlichen Bibliotheken, die ihre Epigonen<lb/> vollgeschrieben haben, in die andere, um deu poetischem Gehalt abzuwägen, die<lb/> zweite Schale hoch in die Luft fliegen, wird.</p><lb/> <p xml:id="ID_1811"> Der Grundfehler des Stückes liegt uicht in der poetischen Darstellung. Ich<lb/> bemerke beiläufig, daß mau durch eizelne ausfallende Wendungen — die Defini-<lb/> tionen, die mehrmals in dem Dialog angebracht sind — sich nicht darf verleiten<lb/> lassen, dem Dichter ein unwillkührliches Verfallen in die Prosa der Reflexion auf¬<lb/> zubürden. Wo sie vorkommen, ist es jedesmal die Absicht, entweder einen Con¬<lb/> trast hervorzubringen — wie in dem Gespräch Orsina'S mit Marinelli, des Malers<lb/> mit dem Prinzen n. s. w. -...... oder es gehört zur Charakterzeichnung. Manuelli,<lb/> dem Prinzen, Claudia sällt es uicht ein, in Definitionen zu reden.</p><lb/> <p xml:id="ID_1812"> Der Fehler liegt tiefer; er liegt in der sittlichen Basis des Stücks, in der<lb/> sittlichen Bildung des Dichters und der Zeit, mit deren Geist er zu kämpfen hatte.</p><lb/> <p xml:id="ID_1813" next="#ID_1814"> Um dies deutlicher zu machen, sondern wir die im Stück beschäftigten Per¬<lb/> sonen in zwei Gruppen: die Gruppe der Weltleute, die ein positives Verhältniß</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0472]
Einerseits ist das schon ein großes Lob. Ein Stück, in welchem sich ein
von allen Seiten vorbereiteter ergreifender Moment nicht vorfindet, in welchen:
man ausrufen muß: Schach dem .Könige! Ein solches Stück wird als Kunstwerk
nicht viel werth sein.
Aber der Tadel, der mittelbar in jenem Urtheil enthalten sein soll, trifft anch
nicht einmal. Wenn es auch möglich wäre, daß der bloß kritische Verstand allein
ausreicht, eine Handlung zu erfinden, in welcher ein Rad in das andere mit
strenger Nothwendigkeit eingreift, nud jedes einem allgemeinen Zwecke dienen muß;
Charaktere zu erfinden, die eine logische Entwickelung nicht nnr andeuten, sondern
anch ausdrücken — eine Möglichkeit, die ich bestreite, denn es ist das bereits ein
wesentlicher Theil der schöpferischen, wenn man nicht sagen will, poetischen Kraft,
bei welchem Ausdruck sich überhaupt soviel und so wenig deuten läßt, als man gerade
Lust hat; wenn aber alles das möglich wäre, so ist damit Lessing's Verdienst noch
lange nicht erschöpft. Denn nicht allein die Zeichnung dieses Gemäldes in der
Strenge ihrer anatomischen Verhältnisse ist bewundernswerth, sondern vor Allem
die Farbe. Die Logik der Entwickelung, die Steigerung, die Spannung, liegt uicht
bloß in den Thatsachen, sondern in der künstlerischen Composition der verschiedenen
Stimmungen und Empfindungen; eine Composition, die eine höhere Seelenkraft
in Anwendung bringt, als deu scheidenden Verstand.
Außerdem siud die Charaktere keineswegs bloße Productionen des Verstan¬
des. Um uur ein Beispiel anzuführen, die Leidenschaft der Orsina in ihrer Will-
kühr, in ihren Sprüngen, in ihrem halben Wahnsinn wäre eines Shakespeare nicht
unwürdig, und wer nicht als reines Kind in dem ersten ABC des romantischen
Katechismus stecken geblieben ist, muß heraus sühlen, daß wenn man diese einzige
Scene der Orsina in die eine Wagschale legt, und die sämmtlichen Werte der
Berliner romantischen Schule, nebst sämmtlichen Bibliotheken, die ihre Epigonen
vollgeschrieben haben, in die andere, um deu poetischem Gehalt abzuwägen, die
zweite Schale hoch in die Luft fliegen, wird.
Der Grundfehler des Stückes liegt uicht in der poetischen Darstellung. Ich
bemerke beiläufig, daß mau durch eizelne ausfallende Wendungen — die Defini-
tionen, die mehrmals in dem Dialog angebracht sind — sich nicht darf verleiten
lassen, dem Dichter ein unwillkührliches Verfallen in die Prosa der Reflexion auf¬
zubürden. Wo sie vorkommen, ist es jedesmal die Absicht, entweder einen Con¬
trast hervorzubringen — wie in dem Gespräch Orsina'S mit Marinelli, des Malers
mit dem Prinzen n. s. w. -...... oder es gehört zur Charakterzeichnung. Manuelli,
dem Prinzen, Claudia sällt es uicht ein, in Definitionen zu reden.
Der Fehler liegt tiefer; er liegt in der sittlichen Basis des Stücks, in der
sittlichen Bildung des Dichters und der Zeit, mit deren Geist er zu kämpfen hatte.
Um dies deutlicher zu machen, sondern wir die im Stück beschäftigten Per¬
sonen in zwei Gruppen: die Gruppe der Weltleute, die ein positives Verhältniß
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