Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Zwei Hanpteinwürfe sind es, die der Verfasser gegen die Phrenologie geltend
macht, erstens, das! diese, "ans die brutalste Weise von der Welt, daS geistige
Leben des Menschen in einzelne Abstractionen zerlege." (Das Wort brutal, bei
diesem Einwürfe gebraucht, ist neu.) Daß überhaupt die Phrenologie den Geist
"zerlegt," wird ihr der Vers, wohl nicht zum Vorwurf macheu, deun das Wesen
aller Wissenschaft ist ja das Zerlegen. Die Wissenschaft zerlegt, was im Leben
ein Ganzes ist, in seine einzelnen Theile, oder, wie den menschlichen Geist, in
seine einzelnen Kräfte. Es fragt sich also nur, wie man den Geist zerlegt.
sind z. B. der Verstand und das Gemüth zwei verschiedene Kräfte, oder ist
beides nur eins und dasselbe? Manche Philosophen glauben das letztere, die Phre¬
nologie behauptet das erstere, und zwar nicht weil sie so vermuthet (als Hypo¬
these), sondern -- und dies ist das Fundament oder die Quintessenz der ganzen
Lehre -- weil sie ans dem Wege der Narnrforschung gefunden hat,
daß beide unter sich getrennt sind. Denn oft hat ein Mensch viel Verstand und
wenig Gemüth, ein andrer wenig Verstand und viel Gemüth; wodurch gleichsam
mathematisch die Nichtidentität beider nachgewiesen ist. Nun bleibt freilich die
Phrenologie hierbei nicht stehen, sondern sie geht im Zerlegen viel weiter, aber
dieses uur darum, weil sie durch Beobachtung gefunden hat, daß die Natur
selbst weiter geht. Denn wenn nur z. B. wieder in den Verstandeskräften
eine so große Verschiedenheit unter den Menschen finden, was ist diese anders,
als eine von der Natur gegebene Nachweisung der Trennung dieser Kräfte?
Wenn z. B. ein Mensch von übrigens geringem. Verstände ein Genie im Rechnen
ist, oder wenn ein übrigens hochbegabter Mensch auffallend schwach im Rechnen
ist, so ist durch diese Thatsache die Trennung des Zahlensinns von den übrigen
Verstandeskräften bewiesen. Und dieselben Thatsachen wiederholen sich bei allen
einzelnen Verstandeskräften. Der Maler, der Musiker, der Feldherr, der Dichter,
der Mechaniker, der Schauspieler, der Philosoph u. f. w. werden als solche ge¬
boren. Kurz, alle die zahlreichen Fälle theilweisen Genies und theilweisen Blöd-
sinns sind eben soviele von der Natur gegebene Nachweisungen der Trennung der
menschlichen Verstandeskräfte. Mau muß die Phrenologie kennen, um deu Fleiß
und die Wissenschaftlichkeit zu würdigen, womit eine unendlich große Zahl solcher
Fälle gesammelt sind. Freilich ging die frühere Seelenforschnng einen ganz an¬
dern Weg. Wie der Verf. es verlangt, ging man von einem "Begriffe" des
Geistes ans: aber man lam auch nur zu Begriffen -- zum abstracten Menschen.
Die Charakterverschiedenheit der Individuen, die Widersprüche des menschlichen
Gemüths, das theilweise Genie, der theilweise Blödsinn und Wahnsinn u. f. w.,
alles dieses war der früheren Seelenlehre ein stets unaufgelöstes Räthsel. Ver¬
dient es daher wohl einen Tadel, oder nicht vielmehr die höchste Anerkennung,
daß die Phrenologie endlich, endlich in diese Hauptfragen der Seelenlehre durch
ihre Forschungen das Licht der erklärenden Erkenntniß gebracht, mit einem Worte


55*

Zwei Hanpteinwürfe sind es, die der Verfasser gegen die Phrenologie geltend
macht, erstens, das! diese, „ans die brutalste Weise von der Welt, daS geistige
Leben des Menschen in einzelne Abstractionen zerlege." (Das Wort brutal, bei
diesem Einwürfe gebraucht, ist neu.) Daß überhaupt die Phrenologie den Geist
„zerlegt," wird ihr der Vers, wohl nicht zum Vorwurf macheu, deun das Wesen
aller Wissenschaft ist ja das Zerlegen. Die Wissenschaft zerlegt, was im Leben
ein Ganzes ist, in seine einzelnen Theile, oder, wie den menschlichen Geist, in
seine einzelnen Kräfte. Es fragt sich also nur, wie man den Geist zerlegt.
sind z. B. der Verstand und das Gemüth zwei verschiedene Kräfte, oder ist
beides nur eins und dasselbe? Manche Philosophen glauben das letztere, die Phre¬
nologie behauptet das erstere, und zwar nicht weil sie so vermuthet (als Hypo¬
these), sondern — und dies ist das Fundament oder die Quintessenz der ganzen
Lehre — weil sie ans dem Wege der Narnrforschung gefunden hat,
daß beide unter sich getrennt sind. Denn oft hat ein Mensch viel Verstand und
wenig Gemüth, ein andrer wenig Verstand und viel Gemüth; wodurch gleichsam
mathematisch die Nichtidentität beider nachgewiesen ist. Nun bleibt freilich die
Phrenologie hierbei nicht stehen, sondern sie geht im Zerlegen viel weiter, aber
dieses uur darum, weil sie durch Beobachtung gefunden hat, daß die Natur
selbst weiter geht. Denn wenn nur z. B. wieder in den Verstandeskräften
eine so große Verschiedenheit unter den Menschen finden, was ist diese anders,
als eine von der Natur gegebene Nachweisung der Trennung dieser Kräfte?
Wenn z. B. ein Mensch von übrigens geringem. Verstände ein Genie im Rechnen
ist, oder wenn ein übrigens hochbegabter Mensch auffallend schwach im Rechnen
ist, so ist durch diese Thatsache die Trennung des Zahlensinns von den übrigen
Verstandeskräften bewiesen. Und dieselben Thatsachen wiederholen sich bei allen
einzelnen Verstandeskräften. Der Maler, der Musiker, der Feldherr, der Dichter,
der Mechaniker, der Schauspieler, der Philosoph u. f. w. werden als solche ge¬
boren. Kurz, alle die zahlreichen Fälle theilweisen Genies und theilweisen Blöd-
sinns sind eben soviele von der Natur gegebene Nachweisungen der Trennung der
menschlichen Verstandeskräfte. Mau muß die Phrenologie kennen, um deu Fleiß
und die Wissenschaftlichkeit zu würdigen, womit eine unendlich große Zahl solcher
Fälle gesammelt sind. Freilich ging die frühere Seelenforschnng einen ganz an¬
dern Weg. Wie der Verf. es verlangt, ging man von einem „Begriffe" des
Geistes ans: aber man lam auch nur zu Begriffen — zum abstracten Menschen.
Die Charakterverschiedenheit der Individuen, die Widersprüche des menschlichen
Gemüths, das theilweise Genie, der theilweise Blödsinn und Wahnsinn u. f. w.,
alles dieses war der früheren Seelenlehre ein stets unaufgelöstes Räthsel. Ver¬
dient es daher wohl einen Tadel, oder nicht vielmehr die höchste Anerkennung,
daß die Phrenologie endlich, endlich in diese Hauptfragen der Seelenlehre durch
ihre Forschungen das Licht der erklärenden Erkenntniß gebracht, mit einem Worte


55*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0443" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/185780"/>
          <p xml:id="ID_1694" next="#ID_1695"> Zwei Hanpteinwürfe sind es, die der Verfasser gegen die Phrenologie geltend<lb/>
macht, erstens, das! diese, &#x201E;ans die brutalste Weise von der Welt, daS geistige<lb/>
Leben des Menschen in einzelne Abstractionen zerlege." (Das Wort brutal, bei<lb/>
diesem Einwürfe gebraucht, ist neu.) Daß überhaupt die Phrenologie den Geist<lb/>
&#x201E;zerlegt," wird ihr der Vers, wohl nicht zum Vorwurf macheu, deun das Wesen<lb/>
aller Wissenschaft ist ja das Zerlegen. Die Wissenschaft zerlegt, was im Leben<lb/>
ein Ganzes ist, in seine einzelnen Theile, oder, wie den menschlichen Geist, in<lb/>
seine einzelnen Kräfte. Es fragt sich also nur, wie man den Geist zerlegt.<lb/>
sind z. B. der Verstand und das Gemüth zwei verschiedene Kräfte, oder ist<lb/>
beides nur eins und dasselbe? Manche Philosophen glauben das letztere, die Phre¬<lb/>
nologie behauptet das erstere, und zwar nicht weil sie so vermuthet (als Hypo¬<lb/>
these), sondern &#x2014; und dies ist das Fundament oder die Quintessenz der ganzen<lb/>
Lehre &#x2014; weil sie ans dem Wege der Narnrforschung gefunden hat,<lb/>
daß beide unter sich getrennt sind. Denn oft hat ein Mensch viel Verstand und<lb/>
wenig Gemüth, ein andrer wenig Verstand und viel Gemüth; wodurch gleichsam<lb/>
mathematisch die Nichtidentität beider nachgewiesen ist. Nun bleibt freilich die<lb/>
Phrenologie hierbei nicht stehen, sondern sie geht im Zerlegen viel weiter, aber<lb/>
dieses uur darum, weil sie durch Beobachtung gefunden hat, daß die Natur<lb/>
selbst weiter geht. Denn wenn nur z. B. wieder in den Verstandeskräften<lb/>
eine so große Verschiedenheit unter den Menschen finden, was ist diese anders,<lb/>
als eine von der Natur gegebene Nachweisung der Trennung dieser Kräfte?<lb/>
Wenn z. B. ein Mensch von übrigens geringem. Verstände ein Genie im Rechnen<lb/>
ist, oder wenn ein übrigens hochbegabter Mensch auffallend schwach im Rechnen<lb/>
ist, so ist durch diese Thatsache die Trennung des Zahlensinns von den übrigen<lb/>
Verstandeskräften bewiesen. Und dieselben Thatsachen wiederholen sich bei allen<lb/>
einzelnen Verstandeskräften. Der Maler, der Musiker, der Feldherr, der Dichter,<lb/>
der Mechaniker, der Schauspieler, der Philosoph u. f. w. werden als solche ge¬<lb/>
boren. Kurz, alle die zahlreichen Fälle theilweisen Genies und theilweisen Blöd-<lb/>
sinns sind eben soviele von der Natur gegebene Nachweisungen der Trennung der<lb/>
menschlichen Verstandeskräfte. Mau muß die Phrenologie kennen, um deu Fleiß<lb/>
und die Wissenschaftlichkeit zu würdigen, womit eine unendlich große Zahl solcher<lb/>
Fälle gesammelt sind. Freilich ging die frühere Seelenforschnng einen ganz an¬<lb/>
dern Weg. Wie der Verf. es verlangt, ging man von einem &#x201E;Begriffe" des<lb/>
Geistes ans: aber man lam auch nur zu Begriffen &#x2014; zum abstracten Menschen.<lb/>
Die Charakterverschiedenheit der Individuen, die Widersprüche des menschlichen<lb/>
Gemüths, das theilweise Genie, der theilweise Blödsinn und Wahnsinn u. f. w.,<lb/>
alles dieses war der früheren Seelenlehre ein stets unaufgelöstes Räthsel. Ver¬<lb/>
dient es daher wohl einen Tadel, oder nicht vielmehr die höchste Anerkennung,<lb/>
daß die Phrenologie endlich, endlich in diese Hauptfragen der Seelenlehre durch<lb/>
ihre Forschungen das Licht der erklärenden Erkenntniß gebracht, mit einem Worte</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 55*</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0443] Zwei Hanpteinwürfe sind es, die der Verfasser gegen die Phrenologie geltend macht, erstens, das! diese, „ans die brutalste Weise von der Welt, daS geistige Leben des Menschen in einzelne Abstractionen zerlege." (Das Wort brutal, bei diesem Einwürfe gebraucht, ist neu.) Daß überhaupt die Phrenologie den Geist „zerlegt," wird ihr der Vers, wohl nicht zum Vorwurf macheu, deun das Wesen aller Wissenschaft ist ja das Zerlegen. Die Wissenschaft zerlegt, was im Leben ein Ganzes ist, in seine einzelnen Theile, oder, wie den menschlichen Geist, in seine einzelnen Kräfte. Es fragt sich also nur, wie man den Geist zerlegt. sind z. B. der Verstand und das Gemüth zwei verschiedene Kräfte, oder ist beides nur eins und dasselbe? Manche Philosophen glauben das letztere, die Phre¬ nologie behauptet das erstere, und zwar nicht weil sie so vermuthet (als Hypo¬ these), sondern — und dies ist das Fundament oder die Quintessenz der ganzen Lehre — weil sie ans dem Wege der Narnrforschung gefunden hat, daß beide unter sich getrennt sind. Denn oft hat ein Mensch viel Verstand und wenig Gemüth, ein andrer wenig Verstand und viel Gemüth; wodurch gleichsam mathematisch die Nichtidentität beider nachgewiesen ist. Nun bleibt freilich die Phrenologie hierbei nicht stehen, sondern sie geht im Zerlegen viel weiter, aber dieses uur darum, weil sie durch Beobachtung gefunden hat, daß die Natur selbst weiter geht. Denn wenn nur z. B. wieder in den Verstandeskräften eine so große Verschiedenheit unter den Menschen finden, was ist diese anders, als eine von der Natur gegebene Nachweisung der Trennung dieser Kräfte? Wenn z. B. ein Mensch von übrigens geringem. Verstände ein Genie im Rechnen ist, oder wenn ein übrigens hochbegabter Mensch auffallend schwach im Rechnen ist, so ist durch diese Thatsache die Trennung des Zahlensinns von den übrigen Verstandeskräften bewiesen. Und dieselben Thatsachen wiederholen sich bei allen einzelnen Verstandeskräften. Der Maler, der Musiker, der Feldherr, der Dichter, der Mechaniker, der Schauspieler, der Philosoph u. f. w. werden als solche ge¬ boren. Kurz, alle die zahlreichen Fälle theilweisen Genies und theilweisen Blöd- sinns sind eben soviele von der Natur gegebene Nachweisungen der Trennung der menschlichen Verstandeskräfte. Mau muß die Phrenologie kennen, um deu Fleiß und die Wissenschaftlichkeit zu würdigen, womit eine unendlich große Zahl solcher Fälle gesammelt sind. Freilich ging die frühere Seelenforschnng einen ganz an¬ dern Weg. Wie der Verf. es verlangt, ging man von einem „Begriffe" des Geistes ans: aber man lam auch nur zu Begriffen — zum abstracten Menschen. Die Charakterverschiedenheit der Individuen, die Widersprüche des menschlichen Gemüths, das theilweise Genie, der theilweise Blödsinn und Wahnsinn u. f. w., alles dieses war der früheren Seelenlehre ein stets unaufgelöstes Räthsel. Ver¬ dient es daher wohl einen Tadel, oder nicht vielmehr die höchste Anerkennung, daß die Phrenologie endlich, endlich in diese Hauptfragen der Seelenlehre durch ihre Forschungen das Licht der erklärenden Erkenntniß gebracht, mit einem Worte 55*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/443
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/443>, abgerufen am 03.07.2024.