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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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des alten Theaters fehlen nicht, um Alles ins Klare zu scheu; die Mordthaten
gehen hinter der Scene vor, der Ort wird nicht gewechselt, die scheinbare Zeit
entspricht leidlich der wirtlichen. -- Die GefülMcvnflicte sind ausgeklügelt, abstract,
calculirt wie bei Calderon, Corneille und Voltaire. Procida, der Befreier Sizi¬
liens, ist der abstract feste Charakter, der römische Brutus, der sein Gefühl und
sein Gewissen zum Schweigen gebracht hat, und uur in der Idee seines Zwecks
lebt. Sein Sohn Loredan ist der sentimentale Held, an dein von allen Seiten
hernmgearbeitet wird. Cr hat mit dein Gouverneur Freundschaft geschlossen, diesen
soll er nun ermorden, so will es der Vater. Also doppelter Conflict: Silsileh^
Pflicht und Freundespflicht; Patriotismus und persönliche Neigung. Die Entschei-
dung wird ihm dadurch erleichtert, daß er in dem Gouverneur seinen Nebenbuhler
entdeckt, von demselben in einem Anflug von Jähzorn übel behandelt wird, und
sich nun selbst zum Zorn anstacheln kann. Cr schwört ihn zu tödten, aber nun
ist der Gouverneur wieder großmüthig; neuer Conflict. Erst rettet er ihn, dann
tobtet er ihn dennoch, stürzt ihm reuevoll zu Füßen und ersticht sich selbst, --
Humbng! -- Seine Geliebte, Amalie, ist des Hohenstaufen Conradin Schwester,
eigentlich liebt sie den Gouverneur, aber die Blutrache und ihre ältere Verpflich¬
tung gegen Loredan bringen wieder einen doppelten Conflict und eine Neihe sehr
bedenklicher Schritte hervor, die man ihr mit wunderbarer Gefälligkeit verzeiht --
wie überhaupt das classische Theater gegen Damen sehr galant ist -- bis sie end¬
lich mit einer Ohnmacht schließt. -- Der beste Charakter ist der Gouverneur, ein
tüchtiges Bild französischer Ritterlichkeit mit ihren Fehlern und Tugenden. --
Die romantische Poesie würde aus diesen: Sujet ein besseres Slück gemacht haben.
Die Verschwörung ist ein alter Vorwurf der dramatischen Poesie, aber das clas¬
sische Theater macht daraus eine Privatintrigue, während der historische Nahmen,
den Schiller, V. Hugo n. s. w. eingeführt haben, dem Stoff erst seine Berech¬
tigung gibt. --

Der Paria (1821) entspricht dem philanthropischen Geist der classischen
Richtung. Conflict der menschlichen Freihet mit den Vorurtheilen eines hierar¬
chischen Systems, ganz allgemein gehalten, ohne historische oder locale Bestimmt¬
heit. Diesmal ist Racine das Vorbild, die Handlung ist klarer, das Interesse
einheitlicher. Der Schluß eines jeden Acis wird durch den Eintritt des Chors
bezeichnet, der in lyrischer Sammlung die Stimmung reflectirt, die aus der vor¬
hergehenden Handlung entspringt. -- Ein junger Paria, Idamor, verläßt seinen
Vater, mischt sich unerkannt nnter die Kriegerschaaren seines Landes, und zeich¬
net sich durch seine Tapferkeit bald so ans, daß er zum Chef des KriegerftammeS
gewählt wird. Er verliebt sich in die Tochter des Oberbraminen, Neala, und
dieser ehrgeizige Mann bewilligt ihm endlich ihre Hand, um ihn besser zu beherr¬
sche". Die Hochzeit soll gefeiert werden, da kommt Idamor'o Vater dazwischen
und verlangt von. seinein Sohn, er solle mit ihn: zurückkommen. Idamor zaudert:


des alten Theaters fehlen nicht, um Alles ins Klare zu scheu; die Mordthaten
gehen hinter der Scene vor, der Ort wird nicht gewechselt, die scheinbare Zeit
entspricht leidlich der wirtlichen. — Die GefülMcvnflicte sind ausgeklügelt, abstract,
calculirt wie bei Calderon, Corneille und Voltaire. Procida, der Befreier Sizi¬
liens, ist der abstract feste Charakter, der römische Brutus, der sein Gefühl und
sein Gewissen zum Schweigen gebracht hat, und uur in der Idee seines Zwecks
lebt. Sein Sohn Loredan ist der sentimentale Held, an dein von allen Seiten
hernmgearbeitet wird. Cr hat mit dein Gouverneur Freundschaft geschlossen, diesen
soll er nun ermorden, so will es der Vater. Also doppelter Conflict: Silsileh^
Pflicht und Freundespflicht; Patriotismus und persönliche Neigung. Die Entschei-
dung wird ihm dadurch erleichtert, daß er in dem Gouverneur seinen Nebenbuhler
entdeckt, von demselben in einem Anflug von Jähzorn übel behandelt wird, und
sich nun selbst zum Zorn anstacheln kann. Cr schwört ihn zu tödten, aber nun
ist der Gouverneur wieder großmüthig; neuer Conflict. Erst rettet er ihn, dann
tobtet er ihn dennoch, stürzt ihm reuevoll zu Füßen und ersticht sich selbst, —
Humbng! — Seine Geliebte, Amalie, ist des Hohenstaufen Conradin Schwester,
eigentlich liebt sie den Gouverneur, aber die Blutrache und ihre ältere Verpflich¬
tung gegen Loredan bringen wieder einen doppelten Conflict und eine Neihe sehr
bedenklicher Schritte hervor, die man ihr mit wunderbarer Gefälligkeit verzeiht —
wie überhaupt das classische Theater gegen Damen sehr galant ist — bis sie end¬
lich mit einer Ohnmacht schließt. — Der beste Charakter ist der Gouverneur, ein
tüchtiges Bild französischer Ritterlichkeit mit ihren Fehlern und Tugenden. —
Die romantische Poesie würde aus diesen: Sujet ein besseres Slück gemacht haben.
Die Verschwörung ist ein alter Vorwurf der dramatischen Poesie, aber das clas¬
sische Theater macht daraus eine Privatintrigue, während der historische Nahmen,
den Schiller, V. Hugo n. s. w. eingeführt haben, dem Stoff erst seine Berech¬
tigung gibt. —

Der Paria (1821) entspricht dem philanthropischen Geist der classischen
Richtung. Conflict der menschlichen Freihet mit den Vorurtheilen eines hierar¬
chischen Systems, ganz allgemein gehalten, ohne historische oder locale Bestimmt¬
heit. Diesmal ist Racine das Vorbild, die Handlung ist klarer, das Interesse
einheitlicher. Der Schluß eines jeden Acis wird durch den Eintritt des Chors
bezeichnet, der in lyrischer Sammlung die Stimmung reflectirt, die aus der vor¬
hergehenden Handlung entspringt. — Ein junger Paria, Idamor, verläßt seinen
Vater, mischt sich unerkannt nnter die Kriegerschaaren seines Landes, und zeich¬
net sich durch seine Tapferkeit bald so ans, daß er zum Chef des KriegerftammeS
gewählt wird. Er verliebt sich in die Tochter des Oberbraminen, Neala, und
dieser ehrgeizige Mann bewilligt ihm endlich ihre Hand, um ihn besser zu beherr¬
sche». Die Hochzeit soll gefeiert werden, da kommt Idamor'o Vater dazwischen
und verlangt von. seinein Sohn, er solle mit ihn: zurückkommen. Idamor zaudert:


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/384>, abgerufen am 22.07.2024.