Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
"Pariser Briefe.
Von einem englischen Geutleucan.

-- Ich finde hier mehr Geschäftigthnerei, als wirkliche Thätigkeit. In diesem
Augenblick ist in den Journalen, den Broschüren, den Unterhaltungen, von nichts An¬
derem die Rede, als von der Arbeit, dem Recht auf Arbeit, der Zukunft der Arbeit, dem
Elend deö Arbeiters, der Stellung deS Producenten, dem Fluch, welcher den infamen
Eousumeuleu treffen must. Mir scheint, daß der Franzose lieber von der Arbeit spricht,
als wirklich arbeitet. Mau beobachte nur die Physiognomie von Paris beim An-
bruch des Abends. Wenn die Arbeit des Tages vollendet ist, und die Bande
dieser ewigen Verpflichtung für einen Augenblick gelöst sind, so ist eS ein wunder¬
barer Anblick, wie der Gefangene sich von seiner Kette befreit fühlt. Sobald die
Arbeit in allen Formen geschlossen wird -- die Werkstätte, die Rechnungsbücher,
die Verpackung der Waaren, die Reden vor Gericht, die ärztlichen Besuche --
dann bebt ein Zittern des Vergnügens durch die ganze Gesellschaft, eS erhebt sich
ein stummes Hurrah, das sich in jeder Bewegung, in jeder Gebärde, in jedem
Auge ausspricht. Die Satyrn schwingen den Thyrsus; die scheuten füllen sich
an, die Kaffeehäuser werdeu hell, die schlechtem Orte öffnen sich, die Theater er¬
heben ihre unzüchtige Stimme. Geleerte und zerbrochene Gläser, seltsame Ver-
gnügungen an deu Entsteinen, schmutzige Tänze, wunderliche Phrasen in den
Salons. Sobald die Pflicht aufhört, jagt der Mensch in fieberhafter Lust dem
Glücke nach.

Man muß Paris in einem der ersten Winterabende sehen. ES hat dann
zugleich etwas Verführerisches und Unheimliches, wie ein liebenswürdiger Wol-
lüstliug, der vou einer Art Krampf ergriffen wird, oder der über einend bösen Ge¬
danken brütet. Alles funkelt, leuchtet, blitzt; aber ohne Wärme. Es ist wie ein
Feenpalast, der aus einem Sumpf gebaut ist; zierliche Wesen tänzeln ans dem
Koth, Irrlichter schimmern in deu Laternen, die Buden strahlen wie ein orienta¬
lischer Bazar. Mitten in diesem Glanz steigen unreine Ausdünstungen aus dem
Wasser auf, welche mau sorgfältig versteckt, um uicht die Symmetrie der andern zu
stören. Dann athmet man eine Mischung von durchdringenden Parfüms und von
Kohlendampf. Dort die Lust, hier der Selbstmord.--

Der Socialismus recrntirt sich vorzugsweise aus zwei Ständen, den Advo-
caten und Literaten: zwei unterirdische Gesellschaften, die im Volke selbst wenig
bekannt siud. Zwei Berufszweige, zu denen der Eintritt sehr leicht ist, bei denen
es aber sehr schwer fällt, zu einer festen gesellschaftlichen Stellung zu gelangen;
deren Grenze die unbestimmteste ist, und die das meiste Elend verbergen. Man
glaubt uicht, wie viele sich mit diesen Titeln auSputzeu, und das Pflaster treten, in
Erwartung einer Revolution. Es gibt Advocaten, die von Privatstunden leben,
und Literaten, die kein anderes Papier gebrauchen, als das NechuungSbuch ihres


Grenzboten. et. I8Z0. -47
«Pariser Briefe.
Von einem englischen Geutleucan.

— Ich finde hier mehr Geschäftigthnerei, als wirkliche Thätigkeit. In diesem
Augenblick ist in den Journalen, den Broschüren, den Unterhaltungen, von nichts An¬
derem die Rede, als von der Arbeit, dem Recht auf Arbeit, der Zukunft der Arbeit, dem
Elend deö Arbeiters, der Stellung deS Producenten, dem Fluch, welcher den infamen
Eousumeuleu treffen must. Mir scheint, daß der Franzose lieber von der Arbeit spricht,
als wirklich arbeitet. Mau beobachte nur die Physiognomie von Paris beim An-
bruch des Abends. Wenn die Arbeit des Tages vollendet ist, und die Bande
dieser ewigen Verpflichtung für einen Augenblick gelöst sind, so ist eS ein wunder¬
barer Anblick, wie der Gefangene sich von seiner Kette befreit fühlt. Sobald die
Arbeit in allen Formen geschlossen wird — die Werkstätte, die Rechnungsbücher,
die Verpackung der Waaren, die Reden vor Gericht, die ärztlichen Besuche —
dann bebt ein Zittern des Vergnügens durch die ganze Gesellschaft, eS erhebt sich
ein stummes Hurrah, das sich in jeder Bewegung, in jeder Gebärde, in jedem
Auge ausspricht. Die Satyrn schwingen den Thyrsus; die scheuten füllen sich
an, die Kaffeehäuser werdeu hell, die schlechtem Orte öffnen sich, die Theater er¬
heben ihre unzüchtige Stimme. Geleerte und zerbrochene Gläser, seltsame Ver-
gnügungen an deu Entsteinen, schmutzige Tänze, wunderliche Phrasen in den
Salons. Sobald die Pflicht aufhört, jagt der Mensch in fieberhafter Lust dem
Glücke nach.

Man muß Paris in einem der ersten Winterabende sehen. ES hat dann
zugleich etwas Verführerisches und Unheimliches, wie ein liebenswürdiger Wol-
lüstliug, der vou einer Art Krampf ergriffen wird, oder der über einend bösen Ge¬
danken brütet. Alles funkelt, leuchtet, blitzt; aber ohne Wärme. Es ist wie ein
Feenpalast, der aus einem Sumpf gebaut ist; zierliche Wesen tänzeln ans dem
Koth, Irrlichter schimmern in deu Laternen, die Buden strahlen wie ein orienta¬
lischer Bazar. Mitten in diesem Glanz steigen unreine Ausdünstungen aus dem
Wasser auf, welche mau sorgfältig versteckt, um uicht die Symmetrie der andern zu
stören. Dann athmet man eine Mischung von durchdringenden Parfüms und von
Kohlendampf. Dort die Lust, hier der Selbstmord.--

Der Socialismus recrntirt sich vorzugsweise aus zwei Ständen, den Advo-
caten und Literaten: zwei unterirdische Gesellschaften, die im Volke selbst wenig
bekannt siud. Zwei Berufszweige, zu denen der Eintritt sehr leicht ist, bei denen
es aber sehr schwer fällt, zu einer festen gesellschaftlichen Stellung zu gelangen;
deren Grenze die unbestimmteste ist, und die das meiste Elend verbergen. Man
glaubt uicht, wie viele sich mit diesen Titeln auSputzeu, und das Pflaster treten, in
Erwartung einer Revolution. Es gibt Advocaten, die von Privatstunden leben,
und Literaten, die kein anderes Papier gebrauchen, als das NechuungSbuch ihres


Grenzboten. et. I8Z0. -47
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0377" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/185714"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> «Pariser Briefe.<lb/><note type="byline"> Von einem englischen Geutleucan.</note></head><lb/>
          <p xml:id="ID_1435"> &#x2014; Ich finde hier mehr Geschäftigthnerei, als wirkliche Thätigkeit. In diesem<lb/>
Augenblick ist in den Journalen, den Broschüren, den Unterhaltungen, von nichts An¬<lb/>
derem die Rede, als von der Arbeit, dem Recht auf Arbeit, der Zukunft der Arbeit, dem<lb/>
Elend deö Arbeiters, der Stellung deS Producenten, dem Fluch, welcher den infamen<lb/>
Eousumeuleu treffen must. Mir scheint, daß der Franzose lieber von der Arbeit spricht,<lb/>
als wirklich arbeitet. Mau beobachte nur die Physiognomie von Paris beim An-<lb/>
bruch des Abends. Wenn die Arbeit des Tages vollendet ist, und die Bande<lb/>
dieser ewigen Verpflichtung für einen Augenblick gelöst sind, so ist eS ein wunder¬<lb/>
barer Anblick, wie der Gefangene sich von seiner Kette befreit fühlt. Sobald die<lb/>
Arbeit in allen Formen geschlossen wird &#x2014; die Werkstätte, die Rechnungsbücher,<lb/>
die Verpackung der Waaren, die Reden vor Gericht, die ärztlichen Besuche &#x2014;<lb/>
dann bebt ein Zittern des Vergnügens durch die ganze Gesellschaft, eS erhebt sich<lb/>
ein stummes Hurrah, das sich in jeder Bewegung, in jeder Gebärde, in jedem<lb/>
Auge ausspricht. Die Satyrn schwingen den Thyrsus; die scheuten füllen sich<lb/>
an, die Kaffeehäuser werdeu hell, die schlechtem Orte öffnen sich, die Theater er¬<lb/>
heben ihre unzüchtige Stimme. Geleerte und zerbrochene Gläser, seltsame Ver-<lb/>
gnügungen an deu Entsteinen, schmutzige Tänze, wunderliche Phrasen in den<lb/>
Salons. Sobald die Pflicht aufhört, jagt der Mensch in fieberhafter Lust dem<lb/>
Glücke nach.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1436"> Man muß Paris in einem der ersten Winterabende sehen. ES hat dann<lb/>
zugleich etwas Verführerisches und Unheimliches, wie ein liebenswürdiger Wol-<lb/>
lüstliug, der vou einer Art Krampf ergriffen wird, oder der über einend bösen Ge¬<lb/>
danken brütet. Alles funkelt, leuchtet, blitzt; aber ohne Wärme. Es ist wie ein<lb/>
Feenpalast, der aus einem Sumpf gebaut ist; zierliche Wesen tänzeln ans dem<lb/>
Koth, Irrlichter schimmern in deu Laternen, die Buden strahlen wie ein orienta¬<lb/>
lischer Bazar. Mitten in diesem Glanz steigen unreine Ausdünstungen aus dem<lb/>
Wasser auf, welche mau sorgfältig versteckt, um uicht die Symmetrie der andern zu<lb/>
stören. Dann athmet man eine Mischung von durchdringenden Parfüms und von<lb/>
Kohlendampf.  Dort die Lust, hier der Selbstmord.--</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1437" next="#ID_1438"> Der Socialismus recrntirt sich vorzugsweise aus zwei Ständen, den Advo-<lb/>
caten und Literaten: zwei unterirdische Gesellschaften, die im Volke selbst wenig<lb/>
bekannt siud. Zwei Berufszweige, zu denen der Eintritt sehr leicht ist, bei denen<lb/>
es aber sehr schwer fällt, zu einer festen gesellschaftlichen Stellung zu gelangen;<lb/>
deren Grenze die unbestimmteste ist, und die das meiste Elend verbergen. Man<lb/>
glaubt uicht, wie viele sich mit diesen Titeln auSputzeu, und das Pflaster treten, in<lb/>
Erwartung einer Revolution. Es gibt Advocaten, die von Privatstunden leben,<lb/>
und Literaten, die kein anderes Papier gebrauchen, als das NechuungSbuch ihres</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten. et. I8Z0. -47</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0377] «Pariser Briefe. Von einem englischen Geutleucan. — Ich finde hier mehr Geschäftigthnerei, als wirkliche Thätigkeit. In diesem Augenblick ist in den Journalen, den Broschüren, den Unterhaltungen, von nichts An¬ derem die Rede, als von der Arbeit, dem Recht auf Arbeit, der Zukunft der Arbeit, dem Elend deö Arbeiters, der Stellung deS Producenten, dem Fluch, welcher den infamen Eousumeuleu treffen must. Mir scheint, daß der Franzose lieber von der Arbeit spricht, als wirklich arbeitet. Mau beobachte nur die Physiognomie von Paris beim An- bruch des Abends. Wenn die Arbeit des Tages vollendet ist, und die Bande dieser ewigen Verpflichtung für einen Augenblick gelöst sind, so ist eS ein wunder¬ barer Anblick, wie der Gefangene sich von seiner Kette befreit fühlt. Sobald die Arbeit in allen Formen geschlossen wird — die Werkstätte, die Rechnungsbücher, die Verpackung der Waaren, die Reden vor Gericht, die ärztlichen Besuche — dann bebt ein Zittern des Vergnügens durch die ganze Gesellschaft, eS erhebt sich ein stummes Hurrah, das sich in jeder Bewegung, in jeder Gebärde, in jedem Auge ausspricht. Die Satyrn schwingen den Thyrsus; die scheuten füllen sich an, die Kaffeehäuser werdeu hell, die schlechtem Orte öffnen sich, die Theater er¬ heben ihre unzüchtige Stimme. Geleerte und zerbrochene Gläser, seltsame Ver- gnügungen an deu Entsteinen, schmutzige Tänze, wunderliche Phrasen in den Salons. Sobald die Pflicht aufhört, jagt der Mensch in fieberhafter Lust dem Glücke nach. Man muß Paris in einem der ersten Winterabende sehen. ES hat dann zugleich etwas Verführerisches und Unheimliches, wie ein liebenswürdiger Wol- lüstliug, der vou einer Art Krampf ergriffen wird, oder der über einend bösen Ge¬ danken brütet. Alles funkelt, leuchtet, blitzt; aber ohne Wärme. Es ist wie ein Feenpalast, der aus einem Sumpf gebaut ist; zierliche Wesen tänzeln ans dem Koth, Irrlichter schimmern in deu Laternen, die Buden strahlen wie ein orienta¬ lischer Bazar. Mitten in diesem Glanz steigen unreine Ausdünstungen aus dem Wasser auf, welche mau sorgfältig versteckt, um uicht die Symmetrie der andern zu stören. Dann athmet man eine Mischung von durchdringenden Parfüms und von Kohlendampf. Dort die Lust, hier der Selbstmord.-- Der Socialismus recrntirt sich vorzugsweise aus zwei Ständen, den Advo- caten und Literaten: zwei unterirdische Gesellschaften, die im Volke selbst wenig bekannt siud. Zwei Berufszweige, zu denen der Eintritt sehr leicht ist, bei denen es aber sehr schwer fällt, zu einer festen gesellschaftlichen Stellung zu gelangen; deren Grenze die unbestimmteste ist, und die das meiste Elend verbergen. Man glaubt uicht, wie viele sich mit diesen Titeln auSputzeu, und das Pflaster treten, in Erwartung einer Revolution. Es gibt Advocaten, die von Privatstunden leben, und Literaten, die kein anderes Papier gebrauchen, als das NechuungSbuch ihres Grenzboten. et. I8Z0. -47

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/377
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/377>, abgerufen am 22.07.2024.