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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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nennt haben, im letzten Todeskampf unter Löwen und Leoparden! Noch hente,
wie anch die Zukunft sich gestalten "löge, ist dieses von Tage zu Tage mehr ver¬
einsamte Kreuz nicht noch immer die einzige Zuflucht für eine religiöse Seele?
Der Altar hat seine Ehren verloren, aber sagt mir, hat sich an seiner Stelle ein
neuer erhoben?"

Im Uebrigen enthalt der erste Theil dieses Luchs, der bestimmt ist, uns
mit den wirtlichen Zuständen deö Volks bekannt zu machen, manche hübsche idyl¬
lische Schilderungen, die uur durch die überflüssige Bildersprache gestört werden.
Mit Recht werden die Romanciers getadelt, daß sie den Boden für ihre Schilde¬
rungen des Volks vorzugsweise im Bagno suchen, und dadurch das Ausland irre
führen. Das sittliche Kleinleben der niedern Stande, namentlich seine Ehe, wird
sehr gemüthlich dargestellt, -- Dagegen ist der zweite Theil, der dein socialen
Eonfliet ans den Grund gehn und seine Lösung herbeiführen soll, sehr schwach.
Nachdem er "die Knechtschaft und deu Haß", die Abhängigkeit der armen Leute
vom Wucherer, die härter ist, als die frühere vom Herrn, in übertriebenen Far¬
ben geschildert hat, weiß er "die Befreiung durch die Liebe" nicht anders zu
zeigen, als daß er ganz im Allgemeinen die Association empfiehlt, mit Hinweisung
ans den leitenden Grundton des Glaubens, das Vaterland: Frankreich soll für
sein Volk eine Religion, ein Dogma und eine Legende sein.

Von größerem Interesse ist die Ansicht von der neuen Geschichte. Hier steht
Michelet aus eignen Füßen. Die Deutschen, auch die Engländer kommen schlecht
weg. Was er vou den letztem sagt, ist zu wunderbar, als daß ich es nicht an¬
führen sollte. "Diese Welt deö Stolzes wird durch ihre eignen Widersprüche
bestraft. Ans zwei feindlichen Principien zusammengesetzt, der Industrie und der
Feudalität, stimmt sie mir in einem Punkt, dem Haschen nach Gewinn. Gold
ist ihr zu Theil geworden, wie Sand am Meere. Möge sie sich daran sättigen,
wenn sie kann. Aber nein, sie will gemessen, und wisse", daß sie genießt, sie
beschränkt sich in die enge Klugheit des EonifortS. Aber mitten in dieser mate¬
riellen Welt tritt bald der Ekel ein. Dann ist Alles verloren, die Welt concen-
trirt sich im Menschen, der Mensch im Genuß der Wirklichkeit, und die Wirklich¬
keit fehlt ihm. Sticht Thränen, nicht weibisches Geschrei, sondern Flüche und
Wnthgehenl erheben sich zum Himmel. Die Freiheit ohne Gott, der ruchlose
Heroismus, in der Literatur die satanische Schule, angedeutet in dem bittern
Zweifel Hamlets, idealisirt sich in dem Satan des Verlornen Paradieses. Sie
ruft mit ihm: Uebel, sei mein Gut! Aber sie sinkt mit Byron in die Ver¬
zweiflung zurück, ttultomllls" inn'cMwn." -- Es ist kaum möglich, in so kur¬
zem Raum so viel Falsches zu sagen.

Dagegen sind die romanischen Völker mit vieler Vorliebe behandelt. Vor
Allem haben die Franzosen die Mission, die Repräsentanten der Menschheit zu
werden. "Ihr Geist ist die Action, darum gehört ihnen die Welt. Es ist ein


nennt haben, im letzten Todeskampf unter Löwen und Leoparden! Noch hente,
wie anch die Zukunft sich gestalten »löge, ist dieses von Tage zu Tage mehr ver¬
einsamte Kreuz nicht noch immer die einzige Zuflucht für eine religiöse Seele?
Der Altar hat seine Ehren verloren, aber sagt mir, hat sich an seiner Stelle ein
neuer erhoben?"

Im Uebrigen enthalt der erste Theil dieses Luchs, der bestimmt ist, uns
mit den wirtlichen Zuständen deö Volks bekannt zu machen, manche hübsche idyl¬
lische Schilderungen, die uur durch die überflüssige Bildersprache gestört werden.
Mit Recht werden die Romanciers getadelt, daß sie den Boden für ihre Schilde¬
rungen des Volks vorzugsweise im Bagno suchen, und dadurch das Ausland irre
führen. Das sittliche Kleinleben der niedern Stande, namentlich seine Ehe, wird
sehr gemüthlich dargestellt, — Dagegen ist der zweite Theil, der dein socialen
Eonfliet ans den Grund gehn und seine Lösung herbeiführen soll, sehr schwach.
Nachdem er „die Knechtschaft und deu Haß", die Abhängigkeit der armen Leute
vom Wucherer, die härter ist, als die frühere vom Herrn, in übertriebenen Far¬
ben geschildert hat, weiß er „die Befreiung durch die Liebe" nicht anders zu
zeigen, als daß er ganz im Allgemeinen die Association empfiehlt, mit Hinweisung
ans den leitenden Grundton des Glaubens, das Vaterland: Frankreich soll für
sein Volk eine Religion, ein Dogma und eine Legende sein.

Von größerem Interesse ist die Ansicht von der neuen Geschichte. Hier steht
Michelet aus eignen Füßen. Die Deutschen, auch die Engländer kommen schlecht
weg. Was er vou den letztem sagt, ist zu wunderbar, als daß ich es nicht an¬
führen sollte. „Diese Welt deö Stolzes wird durch ihre eignen Widersprüche
bestraft. Ans zwei feindlichen Principien zusammengesetzt, der Industrie und der
Feudalität, stimmt sie mir in einem Punkt, dem Haschen nach Gewinn. Gold
ist ihr zu Theil geworden, wie Sand am Meere. Möge sie sich daran sättigen,
wenn sie kann. Aber nein, sie will gemessen, und wisse», daß sie genießt, sie
beschränkt sich in die enge Klugheit des EonifortS. Aber mitten in dieser mate¬
riellen Welt tritt bald der Ekel ein. Dann ist Alles verloren, die Welt concen-
trirt sich im Menschen, der Mensch im Genuß der Wirklichkeit, und die Wirklich¬
keit fehlt ihm. Sticht Thränen, nicht weibisches Geschrei, sondern Flüche und
Wnthgehenl erheben sich zum Himmel. Die Freiheit ohne Gott, der ruchlose
Heroismus, in der Literatur die satanische Schule, angedeutet in dem bittern
Zweifel Hamlets, idealisirt sich in dem Satan des Verlornen Paradieses. Sie
ruft mit ihm: Uebel, sei mein Gut! Aber sie sinkt mit Byron in die Ver¬
zweiflung zurück, ttultomllls« inn'cMwn." — Es ist kaum möglich, in so kur¬
zem Raum so viel Falsches zu sagen.

Dagegen sind die romanischen Völker mit vieler Vorliebe behandelt. Vor
Allem haben die Franzosen die Mission, die Repräsentanten der Menschheit zu
werden. „Ihr Geist ist die Action, darum gehört ihnen die Welt. Es ist ein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/309>, abgerufen am 22.07.2024.