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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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Laus der Weltgeschichte, ungefähr wie die gesammte Natur, deu Kosmos als eine
Totalität, in welcher die gemachten Unterschiede der Zeit, wie vor dein Auge
Gottes, so vor dein Blicke der Wissenschaft verschwinden. Die Zeit ist nnr eine
Form der Vorstellung, el" Maas; deö Verstandes, wie die (^ntfernnngen des
Namens. Das Bild der Menschheit vollendet sich -- nicht in einem zukünftigen
Reich Gottes, nicht in einem Jenseits, nicht in einem Verlornen Paradies, nicht
in einem Ideal des Fortschrittes, nicht in einer einzelnen göttlichen Krscheinnug
-- sondern in der Totalität der Weltgeschichte, die alle Bildungsformen hervor¬
bringt, deren der Geist fähig ist, und sie durch einander ergänzt. Diese Einheit,
die der höhere Blick des Wissenden erkennt, vorzugsweise erkennt in den reinen
Hervorbringungen des Geistes: der Poesie, der Philosophie, der Religion, ist nnr
in der Vollständigkeit der individuellen Gestaltungen vorhanden, und die höhere
Form der Religion z. B. besteht nicht darin, daß sie die frühern, weniger voll-
kommenen Bildungsformen des religiöse" Bewußtseins widerlegt, sondern daß sie
dieselben alle, jede in ihrer bedingten Berechtigung, in sich vereinigt.

Von dieser Idee ausgehend, gibt die Philosophie ihre Ansicht voll der Ge¬
schichte in weiten Perspectiven, die itothweiidigerweise etwas DäinmerhafteS, gleich¬
sam Tränmerisches haben müssen, weil das, worin man früher das Feste suchte, die
empirische Thatsache, zu etwas Unwesentlichen herabgesetzt wird, die aber auf der an¬
dern Seite auf die wesentlichen Unterschiede der Völker nudZeiten, anfihre verschiede¬
nen Ideale in der Religion und der populären Dichtung, ein viel schärferes Licht fallen
läßt, als es der Pragmatismus thut, und dadurch dein Roman in die Hände arbeitet.
Wenn z. V. die vou der Philosophie iuflueucirte, oder auf gleiche" Voraus¬
setzungen mit ihr genieinsam sich aufbauende historische Kritik die Evangelien
dein heiligen Geist, die altrömische Geschichte den geschriebenen Annalen, ja selbst
die Ilias und Odyssee dem historischen Homer entzieht, und sie zu Reflexionen
macht, in denen der (Reise einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Volks sich
selber anschaut, über sich selber ein Bewußtsein gewinnt, so wird sie in ihnen doch
keineswegs bloße Allegorien sogenannter allgemeiner Wahrheiten suchen, sie wird
vielmehr die bestimmten, auch qualitativ verschiedenen Formen des Geistes sehr
streng von einander halte", und gerade diejenige" Pnnkte hervorsuchen, die uns
zuerst befremden müssen, ehe nur sie begreifen. Sie wird ferner, "in den Geist
einer bestimmten Zeit in concreter Vollständigkeit zu fassen, auf seine sämmtlichen
Aeußerungen eingehen müsse"! Politik, Religion, Kunst, Poesie, Wissenschaft
Sittlichkeit -- auf die Sitte, die Convenienz, zuletzt auch ans die Trachten n"d
das locale Kolorit, wie der historische Roman.'

So ist es zu erklären, daß die romantische Geschichtschreibung von beiden
Seiten her bestimmt worden ist. Ich füge noch ein drittes Moment hinzu: die
allgemein erwachende Subjectivität, die auch, wo sie einfach referiren soll, sich
selber Sehlinie; jene eitle Subjectivität, die in der-Belletristik seit Heine sich mit


Laus der Weltgeschichte, ungefähr wie die gesammte Natur, deu Kosmos als eine
Totalität, in welcher die gemachten Unterschiede der Zeit, wie vor dein Auge
Gottes, so vor dein Blicke der Wissenschaft verschwinden. Die Zeit ist nnr eine
Form der Vorstellung, el» Maas; deö Verstandes, wie die (^ntfernnngen des
Namens. Das Bild der Menschheit vollendet sich — nicht in einem zukünftigen
Reich Gottes, nicht in einem Jenseits, nicht in einem Verlornen Paradies, nicht
in einem Ideal des Fortschrittes, nicht in einer einzelnen göttlichen Krscheinnug
— sondern in der Totalität der Weltgeschichte, die alle Bildungsformen hervor¬
bringt, deren der Geist fähig ist, und sie durch einander ergänzt. Diese Einheit,
die der höhere Blick des Wissenden erkennt, vorzugsweise erkennt in den reinen
Hervorbringungen des Geistes: der Poesie, der Philosophie, der Religion, ist nnr
in der Vollständigkeit der individuellen Gestaltungen vorhanden, und die höhere
Form der Religion z. B. besteht nicht darin, daß sie die frühern, weniger voll-
kommenen Bildungsformen des religiöse» Bewußtseins widerlegt, sondern daß sie
dieselben alle, jede in ihrer bedingten Berechtigung, in sich vereinigt.

Von dieser Idee ausgehend, gibt die Philosophie ihre Ansicht voll der Ge¬
schichte in weiten Perspectiven, die itothweiidigerweise etwas DäinmerhafteS, gleich¬
sam Tränmerisches haben müssen, weil das, worin man früher das Feste suchte, die
empirische Thatsache, zu etwas Unwesentlichen herabgesetzt wird, die aber auf der an¬
dern Seite auf die wesentlichen Unterschiede der Völker nudZeiten, anfihre verschiede¬
nen Ideale in der Religion und der populären Dichtung, ein viel schärferes Licht fallen
läßt, als es der Pragmatismus thut, und dadurch dein Roman in die Hände arbeitet.
Wenn z. V. die vou der Philosophie iuflueucirte, oder auf gleiche» Voraus¬
setzungen mit ihr genieinsam sich aufbauende historische Kritik die Evangelien
dein heiligen Geist, die altrömische Geschichte den geschriebenen Annalen, ja selbst
die Ilias und Odyssee dem historischen Homer entzieht, und sie zu Reflexionen
macht, in denen der (Reise einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Volks sich
selber anschaut, über sich selber ein Bewußtsein gewinnt, so wird sie in ihnen doch
keineswegs bloße Allegorien sogenannter allgemeiner Wahrheiten suchen, sie wird
vielmehr die bestimmten, auch qualitativ verschiedenen Formen des Geistes sehr
streng von einander halte», und gerade diejenige» Pnnkte hervorsuchen, die uns
zuerst befremden müssen, ehe nur sie begreifen. Sie wird ferner, »in den Geist
einer bestimmten Zeit in concreter Vollständigkeit zu fassen, auf seine sämmtlichen
Aeußerungen eingehen müsse»! Politik, Religion, Kunst, Poesie, Wissenschaft
Sittlichkeit — auf die Sitte, die Convenienz, zuletzt auch ans die Trachten n»d
das locale Kolorit, wie der historische Roman.'

So ist es zu erklären, daß die romantische Geschichtschreibung von beiden
Seiten her bestimmt worden ist. Ich füge noch ein drittes Moment hinzu: die
allgemein erwachende Subjectivität, die auch, wo sie einfach referiren soll, sich
selber Sehlinie; jene eitle Subjectivität, die in der-Belletristik seit Heine sich mit


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[0304] Laus der Weltgeschichte, ungefähr wie die gesammte Natur, deu Kosmos als eine Totalität, in welcher die gemachten Unterschiede der Zeit, wie vor dein Auge Gottes, so vor dein Blicke der Wissenschaft verschwinden. Die Zeit ist nnr eine Form der Vorstellung, el» Maas; deö Verstandes, wie die (^ntfernnngen des Namens. Das Bild der Menschheit vollendet sich — nicht in einem zukünftigen Reich Gottes, nicht in einem Jenseits, nicht in einem Verlornen Paradies, nicht in einem Ideal des Fortschrittes, nicht in einer einzelnen göttlichen Krscheinnug — sondern in der Totalität der Weltgeschichte, die alle Bildungsformen hervor¬ bringt, deren der Geist fähig ist, und sie durch einander ergänzt. Diese Einheit, die der höhere Blick des Wissenden erkennt, vorzugsweise erkennt in den reinen Hervorbringungen des Geistes: der Poesie, der Philosophie, der Religion, ist nnr in der Vollständigkeit der individuellen Gestaltungen vorhanden, und die höhere Form der Religion z. B. besteht nicht darin, daß sie die frühern, weniger voll- kommenen Bildungsformen des religiöse» Bewußtseins widerlegt, sondern daß sie dieselben alle, jede in ihrer bedingten Berechtigung, in sich vereinigt. Von dieser Idee ausgehend, gibt die Philosophie ihre Ansicht voll der Ge¬ schichte in weiten Perspectiven, die itothweiidigerweise etwas DäinmerhafteS, gleich¬ sam Tränmerisches haben müssen, weil das, worin man früher das Feste suchte, die empirische Thatsache, zu etwas Unwesentlichen herabgesetzt wird, die aber auf der an¬ dern Seite auf die wesentlichen Unterschiede der Völker nudZeiten, anfihre verschiede¬ nen Ideale in der Religion und der populären Dichtung, ein viel schärferes Licht fallen läßt, als es der Pragmatismus thut, und dadurch dein Roman in die Hände arbeitet. Wenn z. V. die vou der Philosophie iuflueucirte, oder auf gleiche» Voraus¬ setzungen mit ihr genieinsam sich aufbauende historische Kritik die Evangelien dein heiligen Geist, die altrömische Geschichte den geschriebenen Annalen, ja selbst die Ilias und Odyssee dem historischen Homer entzieht, und sie zu Reflexionen macht, in denen der (Reise einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Volks sich selber anschaut, über sich selber ein Bewußtsein gewinnt, so wird sie in ihnen doch keineswegs bloße Allegorien sogenannter allgemeiner Wahrheiten suchen, sie wird vielmehr die bestimmten, auch qualitativ verschiedenen Formen des Geistes sehr streng von einander halte», und gerade diejenige» Pnnkte hervorsuchen, die uns zuerst befremden müssen, ehe nur sie begreifen. Sie wird ferner, »in den Geist einer bestimmten Zeit in concreter Vollständigkeit zu fassen, auf seine sämmtlichen Aeußerungen eingehen müsse»! Politik, Religion, Kunst, Poesie, Wissenschaft Sittlichkeit — auf die Sitte, die Convenienz, zuletzt auch ans die Trachten n»d das locale Kolorit, wie der historische Roman.' So ist es zu erklären, daß die romantische Geschichtschreibung von beiden Seiten her bestimmt worden ist. Ich füge noch ein drittes Moment hinzu: die allgemein erwachende Subjectivität, die auch, wo sie einfach referiren soll, sich selber Sehlinie; jene eitle Subjectivität, die in der-Belletristik seit Heine sich mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/304>, abgerufen am 22.07.2024.