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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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nie eine Totalität, und wer von ihnen unser Interesse in Anspruch nehmen will,
muß als Individuum aus der Masse heraustreten.

Das doppelte Bedürfniß des Publicums also: Massen in Bewegung zusehen,
und das Volk, den Repräsentanten der sittlichen Gesinnung, als Totalität zu em¬
pfinden, wird durch das historische Drama so wenig befriedigt, als durch das sub¬
jektive. Hier ist nur der Punkt, in dem ich nun das poetische Recht der Oper zu
begründen glaube. Durch Vermittlung der Musik ist der Dichter im Stande, die
Masse in Bewegung zu zeigen, und das Gemeingefühl als eine Totalität darzu¬
stellen. Die Musik versteht es, die Dissonanzen einer dnrch einander wogenden
Volksmenge harmonisch zu beherrsche"; sie versteht es, die Individuen als Glieder
eines Gesammt-Organismus zu behandeln. Ich möchte wissen, ob der größte
Dichter der Welt durch eine Scene, in der Massen betheiligt sind, anch nur im
Entferntesten einen ähnlich ergreifenden Eindruck erzengen könnte, als z. B. Meyer¬
beer in der Verschwörnngsscene in den Hugenotten oder Ander bei dem Ausbruch
der Jnsurrection in der Stummen. Wenn im Drama viele Personen dnrch einan¬
der sprechen wollten, so würden wir nichts davon verstehen, und es würde keinen
andern Eindruck ans uns machen, als den des Verdrusses über ein zweckwidriges
Getümmel; die Musik gibt den vermittelnden Leittvn.

Es versteht sich von selbst, daß die Oper nur dann an die Erfüllung dieser
Aufgabe denken kauu, wenn sie sich ans einfache, große, in ihrem Gegensatz voll¬
kommen verständliche Empfindungen beschränkt.

Von diesem Gesichtspunkte ans finde ich in der neuen Form der Oper, welche
Meyerbeer und Scribe gefunden haben, zweierlei auszusetzen. -- Ueber ihre Be¬
rechtigung den früheren Kunstformen gegenüber im Folgenden.

Einmal -- und das ist ein äußerlicher und sehr handgreiflicher Vorwand --'
sie wirken auf den Effect dnrch gemeine, unkünstlcrische Mittel. Der Prophet
ist bei weitem reicher an solchen Verirrungen als die beiden frühern Werke des
Meisters -- das Feldlager möchte ich nicht gerne hinzuziehen. Der Kunst
gehören nur diejenigen Mittel an, welche ans den Totaleindruck berechnet sind.
Meyerbeer bietet aber alle Kräfte auf, die Sinne zu beschäftigen und die Auf¬
merksamkeit zu.zerstreuen: Decoration, Ballet, Costüm u. s. w. Gleich zu An¬
fang werden uns zwei Windmühlen vorgeführt, die erst stehen, dann in Bewegung
gesetzt werden; daß die Landleute, ans welche von Seiten der Wiedertäufer ge¬
wirkt werden sollen, Müller sind, thut nicht das Geringste zur Sache. Im dritten
Act soll ein ganz ungewöhnliches, noch nie dagewesenes Ballet aufgeführt werden:
ein Schlittschuhlauf. Wie wird das motivirt? -- Wir siud in eiuer Winterland-
schaft, das Heer der Wiedertäufer sammelt sich, die Anführer unterhalten sich
rccitativisch.


"Jetzt ist der Abend da, und unsre Schaar,
Seit frühem Tag war sie im Kampfe." -- Für

nie eine Totalität, und wer von ihnen unser Interesse in Anspruch nehmen will,
muß als Individuum aus der Masse heraustreten.

Das doppelte Bedürfniß des Publicums also: Massen in Bewegung zusehen,
und das Volk, den Repräsentanten der sittlichen Gesinnung, als Totalität zu em¬
pfinden, wird durch das historische Drama so wenig befriedigt, als durch das sub¬
jektive. Hier ist nur der Punkt, in dem ich nun das poetische Recht der Oper zu
begründen glaube. Durch Vermittlung der Musik ist der Dichter im Stande, die
Masse in Bewegung zu zeigen, und das Gemeingefühl als eine Totalität darzu¬
stellen. Die Musik versteht es, die Dissonanzen einer dnrch einander wogenden
Volksmenge harmonisch zu beherrsche»; sie versteht es, die Individuen als Glieder
eines Gesammt-Organismus zu behandeln. Ich möchte wissen, ob der größte
Dichter der Welt durch eine Scene, in der Massen betheiligt sind, anch nur im
Entferntesten einen ähnlich ergreifenden Eindruck erzengen könnte, als z. B. Meyer¬
beer in der Verschwörnngsscene in den Hugenotten oder Ander bei dem Ausbruch
der Jnsurrection in der Stummen. Wenn im Drama viele Personen dnrch einan¬
der sprechen wollten, so würden wir nichts davon verstehen, und es würde keinen
andern Eindruck ans uns machen, als den des Verdrusses über ein zweckwidriges
Getümmel; die Musik gibt den vermittelnden Leittvn.

Es versteht sich von selbst, daß die Oper nur dann an die Erfüllung dieser
Aufgabe denken kauu, wenn sie sich ans einfache, große, in ihrem Gegensatz voll¬
kommen verständliche Empfindungen beschränkt.

Von diesem Gesichtspunkte ans finde ich in der neuen Form der Oper, welche
Meyerbeer und Scribe gefunden haben, zweierlei auszusetzen. — Ueber ihre Be¬
rechtigung den früheren Kunstformen gegenüber im Folgenden.

Einmal — und das ist ein äußerlicher und sehr handgreiflicher Vorwand —'
sie wirken auf den Effect dnrch gemeine, unkünstlcrische Mittel. Der Prophet
ist bei weitem reicher an solchen Verirrungen als die beiden frühern Werke des
Meisters — das Feldlager möchte ich nicht gerne hinzuziehen. Der Kunst
gehören nur diejenigen Mittel an, welche ans den Totaleindruck berechnet sind.
Meyerbeer bietet aber alle Kräfte auf, die Sinne zu beschäftigen und die Auf¬
merksamkeit zu.zerstreuen: Decoration, Ballet, Costüm u. s. w. Gleich zu An¬
fang werden uns zwei Windmühlen vorgeführt, die erst stehen, dann in Bewegung
gesetzt werden; daß die Landleute, ans welche von Seiten der Wiedertäufer ge¬
wirkt werden sollen, Müller sind, thut nicht das Geringste zur Sache. Im dritten
Act soll ein ganz ungewöhnliches, noch nie dagewesenes Ballet aufgeführt werden:
ein Schlittschuhlauf. Wie wird das motivirt? — Wir siud in eiuer Winterland-
schaft, das Heer der Wiedertäufer sammelt sich, die Anführer unterhalten sich
rccitativisch.


„Jetzt ist der Abend da, und unsre Schaar,
Seit frühem Tag war sie im Kampfe." — Für

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/28>, abgerufen am 22.07.2024.