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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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sincmcnts verfällt, nlag eS sich in weichen, empfindsamen Staturen bewegen, wie
bei Gutzkow, oder in harten, verstockten, wie bei Hebbel, oder in gemischten, die
durch neue Combination widersprechender psychischer Momente in eine unzweck¬
mäßige Stellung gebracht werden, wie bei V. Hugo. Die Vertiefung in die
specifische Eigenthümlichkeit eines Charakters ist mit der Gefahr verbunden, Pro¬
bleme zu stellen, Motive aneinanderzureihen, die dem Volk nicht mehr verständlich
sind, denen es nicht folgen kann, für die es also auch das Interesse verliert.
Wenn das Publikum dieses Raffinement als etwas Unberechtigtes empfindet, und
sich vou Zeit zu Zeit mit großem Behagen in einem bekannten Kreise sittlicher
Vorstellungen bewegt, die ihm mit technischer Sicherheit zurecht gemacht werden,
wie es Frau Birch-Pfeiffer versteht, so ist durchaus nichts dagegen zu sagen; von
der Kritik ist es aber lächerlich, wenn sie der Poesie zumuthet, sie solle ihre
Grübeleien ausgeben, und sich wieder den einfachen, natürlichen, allgemein ver¬
ständlichen Gegensätzen und Voraussetzungen der Iffland'schen Muse zuwenden:
eben so lächerlich, als wenn man von der Philosophie, weil sie sich oft genug
ins Dunkle, Mystische und Trübe verloren, verlangen wollte, sie solle die specu-
lative Tiefe vermeiden, und sich auf dem heitern Gebiet des Katechismus bewe¬
gen: Ueb' immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab u. s. w. Um¬
sonst ernähren sie den Mann, er solle wieder Kind werden. Die neuen Varia¬
tionen ans alte Themata, wie sie die französischen Klassiker versuchen, z. B. Pon-
sa.rd, erregen für den Augenblick eine gewisse Sensation, eben ihrer Neuheit
wegen, aber sie gehen ohne Spur vorüber, weil ihre Aufgabe nicht mehr die der
Zeit ist. Vielmehr wird die Poesie aus ihrer sittlichen Unsicherheit, dem Grund¬
gebrechen der Zeit, nur durch ein noch tieferes Eindringen in das Labyrinth des
Herzens, die Speculation ans ihrem mystischen Dunkel nur durch ein noch ge¬
waltigeres Zusammenfassen der Gegensätze, die in der Natur und dem Geiste den
Blick verwirren, sich befreien können. Durch! ist die Losung uuserer Zeit. Wir
werdeu das Fieber nicht heilen, wenn wir es ignoriren.

Nun hat man in der letzten Zeit den Versuch gemacht, die Objectivität der
poetischen Welt, ihre Anschaulichkeit und Verständlichkeit, dadurch herzustellen, daß
man sich zum historischen Gebiet zurückwendet. Man ist darin durch Schiller's
Vorbild geleitet worden, der seine Popularität zum Theil den objectiven Interessen
verdankt, die er in seinen Dramen verarbeitet. Wenn nnn einerseits nicht zu
leugnen ist, daß geschichtliche Helden, als Träger allgemeiner sittlicher Ideen, ein
höherer Gegenstand siud für die Kunst, als Individuen, die sich lediglich mit dem
eignen Schicksal beschäftigen, so möge man dabei doch nicht übersehen, daß die
Schwierigkeit der poetischen Darstellung sich dadurch uur noch steigert, denn der
subjective Dichter hat uur die Eigenthümlichkeit einer besondern Individualität
verständlich zu macheu; die Basis derselben, die Zeit mit ihren sittlichen An¬
schauungen und, Problemen, setzt er als bekannt voraus. Das historische Drama,


sincmcnts verfällt, nlag eS sich in weichen, empfindsamen Staturen bewegen, wie
bei Gutzkow, oder in harten, verstockten, wie bei Hebbel, oder in gemischten, die
durch neue Combination widersprechender psychischer Momente in eine unzweck¬
mäßige Stellung gebracht werden, wie bei V. Hugo. Die Vertiefung in die
specifische Eigenthümlichkeit eines Charakters ist mit der Gefahr verbunden, Pro¬
bleme zu stellen, Motive aneinanderzureihen, die dem Volk nicht mehr verständlich
sind, denen es nicht folgen kann, für die es also auch das Interesse verliert.
Wenn das Publikum dieses Raffinement als etwas Unberechtigtes empfindet, und
sich vou Zeit zu Zeit mit großem Behagen in einem bekannten Kreise sittlicher
Vorstellungen bewegt, die ihm mit technischer Sicherheit zurecht gemacht werden,
wie es Frau Birch-Pfeiffer versteht, so ist durchaus nichts dagegen zu sagen; von
der Kritik ist es aber lächerlich, wenn sie der Poesie zumuthet, sie solle ihre
Grübeleien ausgeben, und sich wieder den einfachen, natürlichen, allgemein ver¬
ständlichen Gegensätzen und Voraussetzungen der Iffland'schen Muse zuwenden:
eben so lächerlich, als wenn man von der Philosophie, weil sie sich oft genug
ins Dunkle, Mystische und Trübe verloren, verlangen wollte, sie solle die specu-
lative Tiefe vermeiden, und sich auf dem heitern Gebiet des Katechismus bewe¬
gen: Ueb' immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab u. s. w. Um¬
sonst ernähren sie den Mann, er solle wieder Kind werden. Die neuen Varia¬
tionen ans alte Themata, wie sie die französischen Klassiker versuchen, z. B. Pon-
sa.rd, erregen für den Augenblick eine gewisse Sensation, eben ihrer Neuheit
wegen, aber sie gehen ohne Spur vorüber, weil ihre Aufgabe nicht mehr die der
Zeit ist. Vielmehr wird die Poesie aus ihrer sittlichen Unsicherheit, dem Grund¬
gebrechen der Zeit, nur durch ein noch tieferes Eindringen in das Labyrinth des
Herzens, die Speculation ans ihrem mystischen Dunkel nur durch ein noch ge¬
waltigeres Zusammenfassen der Gegensätze, die in der Natur und dem Geiste den
Blick verwirren, sich befreien können. Durch! ist die Losung uuserer Zeit. Wir
werdeu das Fieber nicht heilen, wenn wir es ignoriren.

Nun hat man in der letzten Zeit den Versuch gemacht, die Objectivität der
poetischen Welt, ihre Anschaulichkeit und Verständlichkeit, dadurch herzustellen, daß
man sich zum historischen Gebiet zurückwendet. Man ist darin durch Schiller's
Vorbild geleitet worden, der seine Popularität zum Theil den objectiven Interessen
verdankt, die er in seinen Dramen verarbeitet. Wenn nnn einerseits nicht zu
leugnen ist, daß geschichtliche Helden, als Träger allgemeiner sittlicher Ideen, ein
höherer Gegenstand siud für die Kunst, als Individuen, die sich lediglich mit dem
eignen Schicksal beschäftigen, so möge man dabei doch nicht übersehen, daß die
Schwierigkeit der poetischen Darstellung sich dadurch uur noch steigert, denn der
subjective Dichter hat uur die Eigenthümlichkeit einer besondern Individualität
verständlich zu macheu; die Basis derselben, die Zeit mit ihren sittlichen An¬
schauungen und, Problemen, setzt er als bekannt voraus. Das historische Drama,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/26>, abgerufen am 22.07.2024.