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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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aber freilich für sich anführen konnten, daß in ihren Reichen das Verhältniß der
Kirche zum Staate ein gänzlich andres sei, als in den protestantischen Ländern.

Gerade in den Ländern, wo die Regierung dem Orden keine Schwierigkeiten
in den Weg legt, wo er sich selbst und seiner eigenen Triebkraft überlassen ist,
gerade da hat er in dem letztverflossenen Jahrzehent an Ausdehnung, wenigstens
an Einfluß auf das Leben, viel eingebüßt! Diese Thatsache, die kein Kundiger
leugnen kann, hat ihren Grund unstreitig in der durch die philosophische Bildung
allmählig gegebene Anregung zu nüchterner Prüfung des Bestehenden, zur Kritik jeder
Autorität, kurz darin, daß das jetzt lebende Geschlecht sich eine Aufklärung gebildet hat,
welche die früher von esoterischen Kreisen als Geheimniß bewahrten geistigen Besitz-
thümer weit überflügelt. Was in Straußeus "Dogmatik" und "Leben Jesu"
für Jeden zu lesen ist, das war früher uur in engstem Kreise der Eingeweihten
zu bespreche": erlaubt, die religiöse Toleranz, die einst dort im weitesten Umfange ge¬
lehrt wurde, übt jetzt auch der Uneingeweihte in alle>l Beziehungen seines Lebeus, und
das Princip der Humanität hat sogar in den Schwärmereien socialer Systeme
ganz unerwartet sein Widerspiel gefunden. Die Macht, durch glänzenden Schein,
durch mystische Gebräuche zu imponiren, läßt sich das jetzt lebende Geschlecht, das
immer so schnell mit nüchterner Kritik bei der Hand ist, nicht mehr gern gefallen.
Es fehlt ihm dazu die Freude an der Illusion, leider freilich eine der wesentlichsten
Bedingungen des inneren Glückes. Im achtzehnten Jahrhundert sah man das
deutsche Theater sich so schnell emporschwingen, die Freude an der Illusion kam
ihm damals entgegen. Das Interesse an dramatischen Dingen schwindet jetzt überall,
wo das Publikum sich nicht mehr willig der süßen Täuschung überläßt. Wir treten
der Bedeutung der Freimaurerei keineswegs zu nah, indem wir auf jene parallelen
Erscheinungen des achtzehnten Jahrhunderts hinweisen. Alle Symbolik fodert
Empfänglichkeit; die verhüllte Wahrheit reizt zu gewisser Zeit, die nackte Wahr¬
heit wird von einer andern, wenn auch vielleicht zu deren eigenem Schmerz begehrt.
Es wäre heute unmöglich, daß ein großer Schauspieler, wie Schröder war, eiuen
so großen Einfluß auf den Freimaurerbund ausüben könnte, als jenem in Ham-
burg dereinst vergönnt war. Die Zaubergewalt des Scheins beherrschte damals
auch die größten Geister. Erkannte dies doch selbst Napoleon, als er bei Talma
mimischen und oratorischen Unterricht nahm! Mau geht zu weit, wenn man diese
Künste lediglich als Mittel der Täuschung, Verführung, Ueberredung auffaßt, wie
dies schon Aristoteles, der Sophistenfeind, that, sie weben gar oft eben nur das
Kleid sür die Wahrheit, ohne welches uuter gewissen Umstände", und oft in ganzen
Zeiträumen diese nicht gelitten wird. In gegenwärtiger Zeit nun ist das Ver¬
langen nach der unverhüllten Wahrheit das überwiegende, dies macht gegen jene
Hilfsmittel kalt, wenn es nicht gar gegen dieselben einnimmt.

Die Revolution von 1848 hat das Freimaurerwesen äußerlich wenig berührt,
am wenigsten in Preußen und dem nördlichen Dentschland, allenfalls in Oestreich,


aber freilich für sich anführen konnten, daß in ihren Reichen das Verhältniß der
Kirche zum Staate ein gänzlich andres sei, als in den protestantischen Ländern.

Gerade in den Ländern, wo die Regierung dem Orden keine Schwierigkeiten
in den Weg legt, wo er sich selbst und seiner eigenen Triebkraft überlassen ist,
gerade da hat er in dem letztverflossenen Jahrzehent an Ausdehnung, wenigstens
an Einfluß auf das Leben, viel eingebüßt! Diese Thatsache, die kein Kundiger
leugnen kann, hat ihren Grund unstreitig in der durch die philosophische Bildung
allmählig gegebene Anregung zu nüchterner Prüfung des Bestehenden, zur Kritik jeder
Autorität, kurz darin, daß das jetzt lebende Geschlecht sich eine Aufklärung gebildet hat,
welche die früher von esoterischen Kreisen als Geheimniß bewahrten geistigen Besitz-
thümer weit überflügelt. Was in Straußeus „Dogmatik" und „Leben Jesu"
für Jeden zu lesen ist, das war früher uur in engstem Kreise der Eingeweihten
zu bespreche«: erlaubt, die religiöse Toleranz, die einst dort im weitesten Umfange ge¬
lehrt wurde, übt jetzt auch der Uneingeweihte in alle>l Beziehungen seines Lebeus, und
das Princip der Humanität hat sogar in den Schwärmereien socialer Systeme
ganz unerwartet sein Widerspiel gefunden. Die Macht, durch glänzenden Schein,
durch mystische Gebräuche zu imponiren, läßt sich das jetzt lebende Geschlecht, das
immer so schnell mit nüchterner Kritik bei der Hand ist, nicht mehr gern gefallen.
Es fehlt ihm dazu die Freude an der Illusion, leider freilich eine der wesentlichsten
Bedingungen des inneren Glückes. Im achtzehnten Jahrhundert sah man das
deutsche Theater sich so schnell emporschwingen, die Freude an der Illusion kam
ihm damals entgegen. Das Interesse an dramatischen Dingen schwindet jetzt überall,
wo das Publikum sich nicht mehr willig der süßen Täuschung überläßt. Wir treten
der Bedeutung der Freimaurerei keineswegs zu nah, indem wir auf jene parallelen
Erscheinungen des achtzehnten Jahrhunderts hinweisen. Alle Symbolik fodert
Empfänglichkeit; die verhüllte Wahrheit reizt zu gewisser Zeit, die nackte Wahr¬
heit wird von einer andern, wenn auch vielleicht zu deren eigenem Schmerz begehrt.
Es wäre heute unmöglich, daß ein großer Schauspieler, wie Schröder war, eiuen
so großen Einfluß auf den Freimaurerbund ausüben könnte, als jenem in Ham-
burg dereinst vergönnt war. Die Zaubergewalt des Scheins beherrschte damals
auch die größten Geister. Erkannte dies doch selbst Napoleon, als er bei Talma
mimischen und oratorischen Unterricht nahm! Mau geht zu weit, wenn man diese
Künste lediglich als Mittel der Täuschung, Verführung, Ueberredung auffaßt, wie
dies schon Aristoteles, der Sophistenfeind, that, sie weben gar oft eben nur das
Kleid sür die Wahrheit, ohne welches uuter gewissen Umstände», und oft in ganzen
Zeiträumen diese nicht gelitten wird. In gegenwärtiger Zeit nun ist das Ver¬
langen nach der unverhüllten Wahrheit das überwiegende, dies macht gegen jene
Hilfsmittel kalt, wenn es nicht gar gegen dieselben einnimmt.

Die Revolution von 1848 hat das Freimaurerwesen äußerlich wenig berührt,
am wenigsten in Preußen und dem nördlichen Dentschland, allenfalls in Oestreich,


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[0256] aber freilich für sich anführen konnten, daß in ihren Reichen das Verhältniß der Kirche zum Staate ein gänzlich andres sei, als in den protestantischen Ländern. Gerade in den Ländern, wo die Regierung dem Orden keine Schwierigkeiten in den Weg legt, wo er sich selbst und seiner eigenen Triebkraft überlassen ist, gerade da hat er in dem letztverflossenen Jahrzehent an Ausdehnung, wenigstens an Einfluß auf das Leben, viel eingebüßt! Diese Thatsache, die kein Kundiger leugnen kann, hat ihren Grund unstreitig in der durch die philosophische Bildung allmählig gegebene Anregung zu nüchterner Prüfung des Bestehenden, zur Kritik jeder Autorität, kurz darin, daß das jetzt lebende Geschlecht sich eine Aufklärung gebildet hat, welche die früher von esoterischen Kreisen als Geheimniß bewahrten geistigen Besitz- thümer weit überflügelt. Was in Straußeus „Dogmatik" und „Leben Jesu" für Jeden zu lesen ist, das war früher uur in engstem Kreise der Eingeweihten zu bespreche«: erlaubt, die religiöse Toleranz, die einst dort im weitesten Umfange ge¬ lehrt wurde, übt jetzt auch der Uneingeweihte in alle>l Beziehungen seines Lebeus, und das Princip der Humanität hat sogar in den Schwärmereien socialer Systeme ganz unerwartet sein Widerspiel gefunden. Die Macht, durch glänzenden Schein, durch mystische Gebräuche zu imponiren, läßt sich das jetzt lebende Geschlecht, das immer so schnell mit nüchterner Kritik bei der Hand ist, nicht mehr gern gefallen. Es fehlt ihm dazu die Freude an der Illusion, leider freilich eine der wesentlichsten Bedingungen des inneren Glückes. Im achtzehnten Jahrhundert sah man das deutsche Theater sich so schnell emporschwingen, die Freude an der Illusion kam ihm damals entgegen. Das Interesse an dramatischen Dingen schwindet jetzt überall, wo das Publikum sich nicht mehr willig der süßen Täuschung überläßt. Wir treten der Bedeutung der Freimaurerei keineswegs zu nah, indem wir auf jene parallelen Erscheinungen des achtzehnten Jahrhunderts hinweisen. Alle Symbolik fodert Empfänglichkeit; die verhüllte Wahrheit reizt zu gewisser Zeit, die nackte Wahr¬ heit wird von einer andern, wenn auch vielleicht zu deren eigenem Schmerz begehrt. Es wäre heute unmöglich, daß ein großer Schauspieler, wie Schröder war, eiuen so großen Einfluß auf den Freimaurerbund ausüben könnte, als jenem in Ham- burg dereinst vergönnt war. Die Zaubergewalt des Scheins beherrschte damals auch die größten Geister. Erkannte dies doch selbst Napoleon, als er bei Talma mimischen und oratorischen Unterricht nahm! Mau geht zu weit, wenn man diese Künste lediglich als Mittel der Täuschung, Verführung, Ueberredung auffaßt, wie dies schon Aristoteles, der Sophistenfeind, that, sie weben gar oft eben nur das Kleid sür die Wahrheit, ohne welches uuter gewissen Umstände», und oft in ganzen Zeiträumen diese nicht gelitten wird. In gegenwärtiger Zeit nun ist das Ver¬ langen nach der unverhüllten Wahrheit das überwiegende, dies macht gegen jene Hilfsmittel kalt, wenn es nicht gar gegen dieselben einnimmt. Die Revolution von 1848 hat das Freimaurerwesen äußerlich wenig berührt, am wenigsten in Preußen und dem nördlichen Dentschland, allenfalls in Oestreich,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/256>, abgerufen am 22.07.2024.