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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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' Was aber noch viel schlimmer ist, als die Furcht vor diesen Verfolgungen,
die doch immer uur deu Einzelnen treffen, ist der traurige Gedanke, daß der
Staat damit das einzige Mittel aufgibt, sich selbst und sein Voll dem' unwür¬
digen Zustand, in dem es seit länger als einem Menschenalter schmachtet, zu ent¬
ziehen: die bessere Erziehung. Die elende Einrichtung der Schulen hat das
tüchtige östreichische Voll in die faulen Zustande versenkt, aus denen auch die
krampfhaften Anstrengungen der Revolution es uicht befreien konnten; und dies
System soll nun uicht nur festgehalten, sondern all gesteigerter Energie in Aus¬
übung gebracht werden.

Die Sache ist sehr ernst auch für uns. In dem mächtigen Oestreich hat
nun die Kirche den festen Punkt gefunden, von dem aus sie auf die übrige Welt
einwirken kann. Oestreich wird aber, wie die Sachen jetzt stehn, das Centrum
unserer Deutschen Aristokratie, uuserer Deutschen Reaction. Und der Staat, der
durch seiue Geschichte, durch seiue Interessen und durch seiue Stellung unter den
Weltmächten dazu berufen wäre, der Vorfechter des protestantischen Begriffs in
politischen und religiösen Angelegenheiten zu sein, ist in sich selber unsicher und
haltlos, und kann sich von Zeit zu Zeit des Gelüsts nicht erwehren, an seinem
eigenen Wesen Verrath zu üben.

Das Wesen des Protestantismus bezieht sich nicht allein auf deu Glauben
und den Cultus. Die welthistorische Bedeutung des Protestantismus hat darin
gelegen, daß er die Trennung des weltlichen und geistige": Wesens, die Trennung
vou Staat und Kirche, von Laien und Priestern aufgehoben hat. -- Die Auto¬
nomie in Glaubenssachen, die er dem Einzelnen erobert hat, geht auch in das
Politische über und erhebt jeden Bürger zum Träger vou Rechten und Pflichten,
den Staat zu einer Association freier Personen; seine Beziehung ans das geschrie¬
bene Recht, auf die rechtliche Begründung seines Glaubens in dem bestimmten,
der philologischen und historischen Kritik unterworfenen Buch, treibt ihn anch in
der Politik zu dem Streben nach einem Nechtsstaudpuult und zur gesetzlichen
Entwickelung. Der Absolutismus wie die Revolution gehören den
romanischen, katholischen Völkern an; die beschränkte Staats-
form, der organisirte Widerstand der v e r fehl et me n S taa es g co al-
t c n i se g erina n i sah e r, p rotesta n tisch er natu r.

Es ist oberflächlich, die beide" Eonfessioueu in Deutschland nur von Stand¬
punkt des Katechismus zu fassen. Dieser Unterschied ist in unsern Tagen so ab¬
geblaßt, daß uur uoch die Gelehrten sich darum kümmern. Der Unterschied liegt
in den Institutionen, die, weil sie sich ans die irdischen Dinge beziehen, bürger¬
licher, politischer Natur sind, wenn sie anch ihren Gegenstand in der Kirche haben.

Die Geistlichkeit, die sich durch die Weihen selbst ergänzt und den Laien zu
einer von ihr verschiedenen Menschenclasse rechnet, die dnrch den Cölibat von der
sittlichen Grundlage des Staats, der Familie, gelöst ist, die sich in einem harten


' Was aber noch viel schlimmer ist, als die Furcht vor diesen Verfolgungen,
die doch immer uur deu Einzelnen treffen, ist der traurige Gedanke, daß der
Staat damit das einzige Mittel aufgibt, sich selbst und sein Voll dem' unwür¬
digen Zustand, in dem es seit länger als einem Menschenalter schmachtet, zu ent¬
ziehen: die bessere Erziehung. Die elende Einrichtung der Schulen hat das
tüchtige östreichische Voll in die faulen Zustande versenkt, aus denen auch die
krampfhaften Anstrengungen der Revolution es uicht befreien konnten; und dies
System soll nun uicht nur festgehalten, sondern all gesteigerter Energie in Aus¬
übung gebracht werden.

Die Sache ist sehr ernst auch für uns. In dem mächtigen Oestreich hat
nun die Kirche den festen Punkt gefunden, von dem aus sie auf die übrige Welt
einwirken kann. Oestreich wird aber, wie die Sachen jetzt stehn, das Centrum
unserer Deutschen Aristokratie, uuserer Deutschen Reaction. Und der Staat, der
durch seiue Geschichte, durch seiue Interessen und durch seiue Stellung unter den
Weltmächten dazu berufen wäre, der Vorfechter des protestantischen Begriffs in
politischen und religiösen Angelegenheiten zu sein, ist in sich selber unsicher und
haltlos, und kann sich von Zeit zu Zeit des Gelüsts nicht erwehren, an seinem
eigenen Wesen Verrath zu üben.

Das Wesen des Protestantismus bezieht sich nicht allein auf deu Glauben
und den Cultus. Die welthistorische Bedeutung des Protestantismus hat darin
gelegen, daß er die Trennung des weltlichen und geistige«: Wesens, die Trennung
vou Staat und Kirche, von Laien und Priestern aufgehoben hat. — Die Auto¬
nomie in Glaubenssachen, die er dem Einzelnen erobert hat, geht auch in das
Politische über und erhebt jeden Bürger zum Träger vou Rechten und Pflichten,
den Staat zu einer Association freier Personen; seine Beziehung ans das geschrie¬
bene Recht, auf die rechtliche Begründung seines Glaubens in dem bestimmten,
der philologischen und historischen Kritik unterworfenen Buch, treibt ihn anch in
der Politik zu dem Streben nach einem Nechtsstaudpuult und zur gesetzlichen
Entwickelung. Der Absolutismus wie die Revolution gehören den
romanischen, katholischen Völkern an; die beschränkte Staats-
form, der organisirte Widerstand der v e r fehl et me n S taa es g co al-
t c n i se g erina n i sah e r, p rotesta n tisch er natu r.

Es ist oberflächlich, die beide» Eonfessioueu in Deutschland nur von Stand¬
punkt des Katechismus zu fassen. Dieser Unterschied ist in unsern Tagen so ab¬
geblaßt, daß uur uoch die Gelehrten sich darum kümmern. Der Unterschied liegt
in den Institutionen, die, weil sie sich ans die irdischen Dinge beziehen, bürger¬
licher, politischer Natur sind, wenn sie anch ihren Gegenstand in der Kirche haben.

Die Geistlichkeit, die sich durch die Weihen selbst ergänzt und den Laien zu
einer von ihr verschiedenen Menschenclasse rechnet, die dnrch den Cölibat von der
sittlichen Grundlage des Staats, der Familie, gelöst ist, die sich in einem harten


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[0220] ' Was aber noch viel schlimmer ist, als die Furcht vor diesen Verfolgungen, die doch immer uur deu Einzelnen treffen, ist der traurige Gedanke, daß der Staat damit das einzige Mittel aufgibt, sich selbst und sein Voll dem' unwür¬ digen Zustand, in dem es seit länger als einem Menschenalter schmachtet, zu ent¬ ziehen: die bessere Erziehung. Die elende Einrichtung der Schulen hat das tüchtige östreichische Voll in die faulen Zustande versenkt, aus denen auch die krampfhaften Anstrengungen der Revolution es uicht befreien konnten; und dies System soll nun uicht nur festgehalten, sondern all gesteigerter Energie in Aus¬ übung gebracht werden. Die Sache ist sehr ernst auch für uns. In dem mächtigen Oestreich hat nun die Kirche den festen Punkt gefunden, von dem aus sie auf die übrige Welt einwirken kann. Oestreich wird aber, wie die Sachen jetzt stehn, das Centrum unserer Deutschen Aristokratie, uuserer Deutschen Reaction. Und der Staat, der durch seiue Geschichte, durch seiue Interessen und durch seiue Stellung unter den Weltmächten dazu berufen wäre, der Vorfechter des protestantischen Begriffs in politischen und religiösen Angelegenheiten zu sein, ist in sich selber unsicher und haltlos, und kann sich von Zeit zu Zeit des Gelüsts nicht erwehren, an seinem eigenen Wesen Verrath zu üben. Das Wesen des Protestantismus bezieht sich nicht allein auf deu Glauben und den Cultus. Die welthistorische Bedeutung des Protestantismus hat darin gelegen, daß er die Trennung des weltlichen und geistige«: Wesens, die Trennung vou Staat und Kirche, von Laien und Priestern aufgehoben hat. — Die Auto¬ nomie in Glaubenssachen, die er dem Einzelnen erobert hat, geht auch in das Politische über und erhebt jeden Bürger zum Träger vou Rechten und Pflichten, den Staat zu einer Association freier Personen; seine Beziehung ans das geschrie¬ bene Recht, auf die rechtliche Begründung seines Glaubens in dem bestimmten, der philologischen und historischen Kritik unterworfenen Buch, treibt ihn anch in der Politik zu dem Streben nach einem Nechtsstaudpuult und zur gesetzlichen Entwickelung. Der Absolutismus wie die Revolution gehören den romanischen, katholischen Völkern an; die beschränkte Staats- form, der organisirte Widerstand der v e r fehl et me n S taa es g co al- t c n i se g erina n i sah e r, p rotesta n tisch er natu r. Es ist oberflächlich, die beide» Eonfessioueu in Deutschland nur von Stand¬ punkt des Katechismus zu fassen. Dieser Unterschied ist in unsern Tagen so ab¬ geblaßt, daß uur uoch die Gelehrten sich darum kümmern. Der Unterschied liegt in den Institutionen, die, weil sie sich ans die irdischen Dinge beziehen, bürger¬ licher, politischer Natur sind, wenn sie anch ihren Gegenstand in der Kirche haben. Die Geistlichkeit, die sich durch die Weihen selbst ergänzt und den Laien zu einer von ihr verschiedenen Menschenclasse rechnet, die dnrch den Cölibat von der sittlichen Grundlage des Staats, der Familie, gelöst ist, die sich in einem harten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/220>, abgerufen am 01.10.2024.