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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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Spinnerin stand. Die war nicht älter geworden, und hatte keine Runzel und
kein graues Haar mehr als sonst, weil uur alle hundert Jahre ihr eine Runzel
und ein graues Haar mehr wuchs. Aber sie war nicht so freundlich gegen die
Königin, als sie gegen die Hirtin gewesen, sondern redete sehr wenig und blickte
Luscha gar nicht an.

"Weil Du mich gerufen," sagte sie, "so mußte ich öffnen. Sag an, wes¬
halb kommst Du?"

"Mein Gemahl, der König, ist krank, gib mir ein Mittel, ihn zu retten."

"Ich bin kein Arzt. Ihr habt ja weise und gelehrte Leute am Hofe, die
mögen ihn retten. Können es die nicht, so soll der König die Geister rufe",
weil er ein Zauberer ist."

"Ach, auch die Geister siud uicht so mächtig, als der Tod. Ich bitte Dich,
um Deswillen, daß ich ihn so unaussprechlich liebe, gib mir ein Stück Fade",
fingerslang, damit er uicht sterbe."

Die Spinnerin wollte das uicht thun. Da bat Luscha so lauge und so
flehentlich, daß sie die Alte erweichte.

Sie riß von der Spule ein fingerslanges Stück ab und sagte: "Da ist,
was Du begehrst. Aber wisse, daß der König, wenn er anch nicht stirbt, so
gut wie todt ist, wenn er die Greuze menschlichen Alters überschritten hat, und
mir dann helfen muß, spinnen, spinnen, spinnen, bis dieser Faden fertig ist.
Dann verjüngt er sich, und geht aus der Klus hervor, und herrscht wieder über
Ardalia. Bis dahin fließen viele Geschlechter den Lebensbach hinab. Geh' und
klopfe an diese Thüre da."

Luscha that, wie ihr die Alte befohlen. Die Thüre sprang auf, und da
sah sie viele uralte, abgestorbene, bewegungslose Menschen sitzen, Männer und
Weiber, die spannen. --

"Das sind lauter Leute, die ewig leben wollten, und darauf harren, daß
DezcbaluS frei werde, wenn ich deu Faden abgesponnen haben werde. Dn aber
geh heim und lebe noch sieben Jahre so glücklich, als Dir beschieden ist."

Luscha ging uach Hause und übergab dem König das fingerslange Stück
Faden, und sagte ihm, daß er jetzt genesen werde. Das sagte sie ihm aber
nicht, daß er dann, wenn er alt geworden, spinnen müsse mit den andern Leuten
in der Höhle, und daß er nach viel hundert Jahre" sich verjünge.

Als der König deu Faden genommen, ward er wieder gesund und herrschte
uoch lange über Ardalia, und starb nicht einmal in der Schlacht gegen die
Römer, sondern spinnt jetzt in der Klus, und wer einen geweihten Todtcnstuger
bei sich trägt, und nie in seinem Leben gelogen hat, der kann ihn noch heute in
der S. Nikolausnacht dort spinnen scheu. Luscha aber starb sieben Jahre nach¬
her, wie es die Spinnerin ihr voraus gesagt hatte. --


Spinnerin stand. Die war nicht älter geworden, und hatte keine Runzel und
kein graues Haar mehr als sonst, weil uur alle hundert Jahre ihr eine Runzel
und ein graues Haar mehr wuchs. Aber sie war nicht so freundlich gegen die
Königin, als sie gegen die Hirtin gewesen, sondern redete sehr wenig und blickte
Luscha gar nicht an.

„Weil Du mich gerufen," sagte sie, „so mußte ich öffnen. Sag an, wes¬
halb kommst Du?"

„Mein Gemahl, der König, ist krank, gib mir ein Mittel, ihn zu retten."

„Ich bin kein Arzt. Ihr habt ja weise und gelehrte Leute am Hofe, die
mögen ihn retten. Können es die nicht, so soll der König die Geister rufe»,
weil er ein Zauberer ist."

„Ach, auch die Geister siud uicht so mächtig, als der Tod. Ich bitte Dich,
um Deswillen, daß ich ihn so unaussprechlich liebe, gib mir ein Stück Fade»,
fingerslang, damit er uicht sterbe."

Die Spinnerin wollte das uicht thun. Da bat Luscha so lauge und so
flehentlich, daß sie die Alte erweichte.

Sie riß von der Spule ein fingerslanges Stück ab und sagte: „Da ist,
was Du begehrst. Aber wisse, daß der König, wenn er anch nicht stirbt, so
gut wie todt ist, wenn er die Greuze menschlichen Alters überschritten hat, und
mir dann helfen muß, spinnen, spinnen, spinnen, bis dieser Faden fertig ist.
Dann verjüngt er sich, und geht aus der Klus hervor, und herrscht wieder über
Ardalia. Bis dahin fließen viele Geschlechter den Lebensbach hinab. Geh' und
klopfe an diese Thüre da."

Luscha that, wie ihr die Alte befohlen. Die Thüre sprang auf, und da
sah sie viele uralte, abgestorbene, bewegungslose Menschen sitzen, Männer und
Weiber, die spannen. —

„Das sind lauter Leute, die ewig leben wollten, und darauf harren, daß
DezcbaluS frei werde, wenn ich deu Faden abgesponnen haben werde. Dn aber
geh heim und lebe noch sieben Jahre so glücklich, als Dir beschieden ist."

Luscha ging uach Hause und übergab dem König das fingerslange Stück
Faden, und sagte ihm, daß er jetzt genesen werde. Das sagte sie ihm aber
nicht, daß er dann, wenn er alt geworden, spinnen müsse mit den andern Leuten
in der Höhle, und daß er nach viel hundert Jahre» sich verjünge.

Als der König deu Faden genommen, ward er wieder gesund und herrschte
uoch lange über Ardalia, und starb nicht einmal in der Schlacht gegen die
Römer, sondern spinnt jetzt in der Klus, und wer einen geweihten Todtcnstuger
bei sich trägt, und nie in seinem Leben gelogen hat, der kann ihn noch heute in
der S. Nikolausnacht dort spinnen scheu. Luscha aber starb sieben Jahre nach¬
her, wie es die Spinnerin ihr voraus gesagt hatte. —


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/198>, abgerufen am 22.07.2024.