Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band.des Zeitalters der Reformation bestanden, ist es nicht zweifelhaft, ob die Refor¬ Es ist aber ungerecht und unvernünftig, uns die Fähigkeit, einen Staat zu des Zeitalters der Reformation bestanden, ist es nicht zweifelhaft, ob die Refor¬ Es ist aber ungerecht und unvernünftig, uns die Fähigkeit, einen Staat zu <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0006" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/279554"/> <p xml:id="ID_5" prev="#ID_4"> des Zeitalters der Reformation bestanden, ist es nicht zweifelhaft, ob die Refor¬<lb/> mation die Gesammtheit unseres Volkes in der Weise ergriffen hätte, als es ge¬<lb/> schehen, wenn dessen Blicke bereits aus ein Gemeingut gerichtet gewesen wären,<lb/> das ihm Nahrung und Beschäftigung gegeben? Ist es nicht wahrscheinlich, daß<lb/> jene Revolution nicht nothwendig gewesen wäre, wenn wir ein Staatsleben ge¬<lb/> habt hätten, welches die Anmaßungen und den Despotismus der Kirche ent¬<lb/> weder gar nicht hätte aufkommen lassen, oder doch zu brechen vermocht hätte?<lb/> In der That, die Klagen Gregors von Haimburg über die Nichtigkeit der Reichs¬<lb/> gewalt, über den Hochmuth und die Tyrannei der Fürsten, von denen jeder sou¬<lb/> verän sei und in seinem Lande den Kaiser spiele, sind im Wesentlichen dieselben,<lb/> wie die unseres Georg Gervinus über die Nichtigkeit der Vundesgewalt und den<lb/> gegenwärtigen Zustand Deutschlands. Zweihundert Jahre vor jenem Märtyrer<lb/> (den nicht der Tod, sondern das Leben zu einem solchen machte), hören wir die¬<lb/> selbe Sprache aus dem Munde Friedrichs it., jenes thatkräftigen Hohenstaufen,<lb/> der nicht Deutschland, sondern Neapel zum Schauplätze seines Wirkens gemacht<lb/> hat; und man gehe zurück bis auf Otto I. und Heinrich I., man wird weder<lb/> einen Staat finden, noch einen Kaiser als Repräsentanten der Idee der Nation:<lb/> der Kaiser ist nicht mehr und nicht weniger als der erste, der vornehmste Herr<lb/> im Reiche, dessen zerstreute Kräfte ihm allerdings nicht selten zu sammeln gelingt,<lb/> aber stets nur für Momente und nur während der ersten drei Jahrhunderte des<lb/> Reiches — des römischen Reiches deutscher Nation, dessen Geschichte nur einen<lb/> Theil, für einzelne Zeiträume eiuen verschwindend kleinen Theil der Geschichte<lb/> dieser Nation bildet.</p><lb/> <p xml:id="ID_6" next="#ID_7"> Es ist aber ungerecht und unvernünftig, uns die Fähigkeit, einen Staat zu<lb/> schaffen, absprechen zu wollen, weil er bis jetzt nicht geschaffen ist. Unsere Vor¬<lb/> fahren hatten während des ganzen Mittelalters nicht das Bedürfniß des Staates<lb/> (hatten sie doch nicht einmal ein Wort für den Begriff Vaterland), wie andere<lb/> Völker während ihrer Kindheit ebenfalls nicht; Lage und Bodengestaltung und<lb/> der Despotismus, welcher die Vorarbeiten der Natur instinktmäßig benutzte, das<lb/> war es, was anderswo auf den Staat geführt hat. In Spanien, Frankreich,<lb/> England, Nußland ist der Staat entweder Centralisation oder eine Frucht der¬<lb/> selben; Bodengestaltung und Lage dieser Länder haben solche Centralisation mög¬<lb/> lich gemacht, haben selbst zu ihr hingedrängt. Um ein großes Centralgebiet lagern<lb/> hier peripherisch kleinere und kleine Gebiete, welche sich freiwillig oder unfreiwillig<lb/> dem Einflüsse jenes untergeben haben, weil ihr ganzes Sein eine Unterordnung<lb/> forderte, oder sie konnten durch die verdichtete Macht des Centralgebietes allmälig<lb/> unterworfen werden. Ein solches natürliches Centrum fehlt aber in Deutschland.<lb/> Gebirgsketten und Ströme durchziehen es nach allen Richtungen, schaffen Gebiete,<lb/> von denen jedes fast keinen eigenen Charakter trägt, abe-r keines derselben ist ein<lb/> centrales. — Und vergleichen wir weiter das in dem Herzen Europas gelegene</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0006]
des Zeitalters der Reformation bestanden, ist es nicht zweifelhaft, ob die Refor¬
mation die Gesammtheit unseres Volkes in der Weise ergriffen hätte, als es ge¬
schehen, wenn dessen Blicke bereits aus ein Gemeingut gerichtet gewesen wären,
das ihm Nahrung und Beschäftigung gegeben? Ist es nicht wahrscheinlich, daß
jene Revolution nicht nothwendig gewesen wäre, wenn wir ein Staatsleben ge¬
habt hätten, welches die Anmaßungen und den Despotismus der Kirche ent¬
weder gar nicht hätte aufkommen lassen, oder doch zu brechen vermocht hätte?
In der That, die Klagen Gregors von Haimburg über die Nichtigkeit der Reichs¬
gewalt, über den Hochmuth und die Tyrannei der Fürsten, von denen jeder sou¬
verän sei und in seinem Lande den Kaiser spiele, sind im Wesentlichen dieselben,
wie die unseres Georg Gervinus über die Nichtigkeit der Vundesgewalt und den
gegenwärtigen Zustand Deutschlands. Zweihundert Jahre vor jenem Märtyrer
(den nicht der Tod, sondern das Leben zu einem solchen machte), hören wir die¬
selbe Sprache aus dem Munde Friedrichs it., jenes thatkräftigen Hohenstaufen,
der nicht Deutschland, sondern Neapel zum Schauplätze seines Wirkens gemacht
hat; und man gehe zurück bis auf Otto I. und Heinrich I., man wird weder
einen Staat finden, noch einen Kaiser als Repräsentanten der Idee der Nation:
der Kaiser ist nicht mehr und nicht weniger als der erste, der vornehmste Herr
im Reiche, dessen zerstreute Kräfte ihm allerdings nicht selten zu sammeln gelingt,
aber stets nur für Momente und nur während der ersten drei Jahrhunderte des
Reiches — des römischen Reiches deutscher Nation, dessen Geschichte nur einen
Theil, für einzelne Zeiträume eiuen verschwindend kleinen Theil der Geschichte
dieser Nation bildet.
Es ist aber ungerecht und unvernünftig, uns die Fähigkeit, einen Staat zu
schaffen, absprechen zu wollen, weil er bis jetzt nicht geschaffen ist. Unsere Vor¬
fahren hatten während des ganzen Mittelalters nicht das Bedürfniß des Staates
(hatten sie doch nicht einmal ein Wort für den Begriff Vaterland), wie andere
Völker während ihrer Kindheit ebenfalls nicht; Lage und Bodengestaltung und
der Despotismus, welcher die Vorarbeiten der Natur instinktmäßig benutzte, das
war es, was anderswo auf den Staat geführt hat. In Spanien, Frankreich,
England, Nußland ist der Staat entweder Centralisation oder eine Frucht der¬
selben; Bodengestaltung und Lage dieser Länder haben solche Centralisation mög¬
lich gemacht, haben selbst zu ihr hingedrängt. Um ein großes Centralgebiet lagern
hier peripherisch kleinere und kleine Gebiete, welche sich freiwillig oder unfreiwillig
dem Einflüsse jenes untergeben haben, weil ihr ganzes Sein eine Unterordnung
forderte, oder sie konnten durch die verdichtete Macht des Centralgebietes allmälig
unterworfen werden. Ein solches natürliches Centrum fehlt aber in Deutschland.
Gebirgsketten und Ströme durchziehen es nach allen Richtungen, schaffen Gebiete,
von denen jedes fast keinen eigenen Charakter trägt, abe-r keines derselben ist ein
centrales. — Und vergleichen wir weiter das in dem Herzen Europas gelegene
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |