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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band.

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Sinne; er hat aus den Chroniken gelernt, wie sie sich räuspern und wie sie
spucken, aber der bloßen Kuriosität fällt es in^'dem, hinter der bunten Tracht den
Geist zu suchen. Er geht von einer Anekdote oder einem sonderbaren Zug aus,
den die Chronik von ihrem Helden berichtet, und diesen macht er zum Thema
seiner Variationen. Sein Ludwig XM. (Marion de Lorine) ist eine Variation
auf das Thema: der König haßt seinen Minister und hat nicht den Muth, es
auszusprechen; sein Ludwig XI. (Notre Dame) ist der abstracte Geiz, mit Grau¬
samkeit gepaart -- und was für ein vortreffliches Vorbild hatte er hier im Quer"
tin Durward! -- sein Franz l. (to roi s'um>i8e) ist der Ronv ans den Zeiten
der Regentschaft; sein Karl V. (Hernani) genau derselbe, wenn er sich auch zum
Schluß ohne alles Motiv in einen andern verwandelt. Von den spätern will ich
gar nicht reden. So wenig von geschichtlicher Treue die Rede ist, so wenig von
menschlicher Natur; jene historischen Helden sind Fratzen, über die wir uns ver¬
wundern, die uns aber kein Interesse abgewinnen können, weil sie nicht von unserm
Fleisch und Blut sind. Die Nebencharaktere find unmöglich in der Zeit, in der
sie auftreten; sie sind nur deutbar in den Zeiten romantischer Begriffsverwirrung.
Wenn Alexandre Dumas in seinen historischen Stücken ebenso frivol mit der Ge¬
schichte umgeht, so ertragen wir das eher, denn er hält wenigstens Farbe; in
welche Zeit er auch seiue Anekdoten verlegt, er bleibt eigentlich immer in seinen
gewohnten Kreise", bei den pariser Journalisten, die in den Tag hineinleben,
hübsche Maitressen halten, viel trinken und viel spielen, und eben so gut mit dem
Degen umzugehn wissen, als mit der Feder. Wenn seine Kavaliere sich über Litera¬
tur, Oper, Grisetten und Paukereien unterhalten, so weiß man immer, wer eigent¬
lich der Sprechende ist, und wenn uns unnütze Details angeführt werden, so
macht uns diese naive Freude eines Dilettanten, der in seinen Bilderbüchern eine
neue Maske findet, zu viel Spaß, als daß wir uns ernstlich über die Ungeschick¬
lichkeit des dramatischen Dichters ärgern sollten. Die Helden unsers Poeten da¬
gegen treten mit einer Prätension auf, die uns beleidigt, weil sie hohl ist. Ich
glaube, die Art und Weise, wie Victor Hugo die Geschichte auffaßt, am besten
an einem Monolog nachweisen zu können, de" er Karl V. in einem Keller zu
Frankfurt am Main halten läßt, in dem Augenblick, als er eben zum Kaiser
gewählt wird, als zu gleicher Zeit eine Rotte spanischer Verschwörer, die ihm
nach Frankfurt gefolgt sind, ihm auflauert, um seinem Leben ein Ende zu macheu.
Dieser Monolog, den die Schule lange Zeit für ein Meisterstück ausgegeben hat,
und der beiläufig auch ein sehr gutes Bild von der Geba"kenassociation des Dich¬
ters und von seinem Vers gibt, lautet folgendermaßen:


^>i! e'chi, un Il,^" sucelai:!" ^ ri>,oil' I.'i, ni-n""!,',
Huc I'Lnropv, "insi k-üls, vt vomuie U *) I'" laigsvv!


*) Karl der Große.

Sinne; er hat aus den Chroniken gelernt, wie sie sich räuspern und wie sie
spucken, aber der bloßen Kuriosität fällt es in^'dem, hinter der bunten Tracht den
Geist zu suchen. Er geht von einer Anekdote oder einem sonderbaren Zug aus,
den die Chronik von ihrem Helden berichtet, und diesen macht er zum Thema
seiner Variationen. Sein Ludwig XM. (Marion de Lorine) ist eine Variation
auf das Thema: der König haßt seinen Minister und hat nicht den Muth, es
auszusprechen; sein Ludwig XI. (Notre Dame) ist der abstracte Geiz, mit Grau¬
samkeit gepaart — und was für ein vortreffliches Vorbild hatte er hier im Quer«
tin Durward! — sein Franz l. (to roi s'um>i8e) ist der Ronv ans den Zeiten
der Regentschaft; sein Karl V. (Hernani) genau derselbe, wenn er sich auch zum
Schluß ohne alles Motiv in einen andern verwandelt. Von den spätern will ich
gar nicht reden. So wenig von geschichtlicher Treue die Rede ist, so wenig von
menschlicher Natur; jene historischen Helden sind Fratzen, über die wir uns ver¬
wundern, die uns aber kein Interesse abgewinnen können, weil sie nicht von unserm
Fleisch und Blut sind. Die Nebencharaktere find unmöglich in der Zeit, in der
sie auftreten; sie sind nur deutbar in den Zeiten romantischer Begriffsverwirrung.
Wenn Alexandre Dumas in seinen historischen Stücken ebenso frivol mit der Ge¬
schichte umgeht, so ertragen wir das eher, denn er hält wenigstens Farbe; in
welche Zeit er auch seiue Anekdoten verlegt, er bleibt eigentlich immer in seinen
gewohnten Kreise», bei den pariser Journalisten, die in den Tag hineinleben,
hübsche Maitressen halten, viel trinken und viel spielen, und eben so gut mit dem
Degen umzugehn wissen, als mit der Feder. Wenn seine Kavaliere sich über Litera¬
tur, Oper, Grisetten und Paukereien unterhalten, so weiß man immer, wer eigent¬
lich der Sprechende ist, und wenn uns unnütze Details angeführt werden, so
macht uns diese naive Freude eines Dilettanten, der in seinen Bilderbüchern eine
neue Maske findet, zu viel Spaß, als daß wir uns ernstlich über die Ungeschick¬
lichkeit des dramatischen Dichters ärgern sollten. Die Helden unsers Poeten da¬
gegen treten mit einer Prätension auf, die uns beleidigt, weil sie hohl ist. Ich
glaube, die Art und Weise, wie Victor Hugo die Geschichte auffaßt, am besten
an einem Monolog nachweisen zu können, de» er Karl V. in einem Keller zu
Frankfurt am Main halten läßt, in dem Augenblick, als er eben zum Kaiser
gewählt wird, als zu gleicher Zeit eine Rotte spanischer Verschwörer, die ihm
nach Frankfurt gefolgt sind, ihm auflauert, um seinem Leben ein Ende zu macheu.
Dieser Monolog, den die Schule lange Zeit für ein Meisterstück ausgegeben hat,
und der beiläufig auch ein sehr gutes Bild von der Geba»kenassociation des Dich¬
ters und von seinem Vers gibt, lautet folgendermaßen:


^>i! e'chi, un Il,^» sucelai:!« ^ ri>,oil' I.'i, ni-n»«!,',
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[0497] Sinne; er hat aus den Chroniken gelernt, wie sie sich räuspern und wie sie spucken, aber der bloßen Kuriosität fällt es in^'dem, hinter der bunten Tracht den Geist zu suchen. Er geht von einer Anekdote oder einem sonderbaren Zug aus, den die Chronik von ihrem Helden berichtet, und diesen macht er zum Thema seiner Variationen. Sein Ludwig XM. (Marion de Lorine) ist eine Variation auf das Thema: der König haßt seinen Minister und hat nicht den Muth, es auszusprechen; sein Ludwig XI. (Notre Dame) ist der abstracte Geiz, mit Grau¬ samkeit gepaart — und was für ein vortreffliches Vorbild hatte er hier im Quer« tin Durward! — sein Franz l. (to roi s'um>i8e) ist der Ronv ans den Zeiten der Regentschaft; sein Karl V. (Hernani) genau derselbe, wenn er sich auch zum Schluß ohne alles Motiv in einen andern verwandelt. Von den spätern will ich gar nicht reden. So wenig von geschichtlicher Treue die Rede ist, so wenig von menschlicher Natur; jene historischen Helden sind Fratzen, über die wir uns ver¬ wundern, die uns aber kein Interesse abgewinnen können, weil sie nicht von unserm Fleisch und Blut sind. Die Nebencharaktere find unmöglich in der Zeit, in der sie auftreten; sie sind nur deutbar in den Zeiten romantischer Begriffsverwirrung. Wenn Alexandre Dumas in seinen historischen Stücken ebenso frivol mit der Ge¬ schichte umgeht, so ertragen wir das eher, denn er hält wenigstens Farbe; in welche Zeit er auch seiue Anekdoten verlegt, er bleibt eigentlich immer in seinen gewohnten Kreise», bei den pariser Journalisten, die in den Tag hineinleben, hübsche Maitressen halten, viel trinken und viel spielen, und eben so gut mit dem Degen umzugehn wissen, als mit der Feder. Wenn seine Kavaliere sich über Litera¬ tur, Oper, Grisetten und Paukereien unterhalten, so weiß man immer, wer eigent¬ lich der Sprechende ist, und wenn uns unnütze Details angeführt werden, so macht uns diese naive Freude eines Dilettanten, der in seinen Bilderbüchern eine neue Maske findet, zu viel Spaß, als daß wir uns ernstlich über die Ungeschick¬ lichkeit des dramatischen Dichters ärgern sollten. Die Helden unsers Poeten da¬ gegen treten mit einer Prätension auf, die uns beleidigt, weil sie hohl ist. Ich glaube, die Art und Weise, wie Victor Hugo die Geschichte auffaßt, am besten an einem Monolog nachweisen zu können, de» er Karl V. in einem Keller zu Frankfurt am Main halten läßt, in dem Augenblick, als er eben zum Kaiser gewählt wird, als zu gleicher Zeit eine Rotte spanischer Verschwörer, die ihm nach Frankfurt gefolgt sind, ihm auflauert, um seinem Leben ein Ende zu macheu. Dieser Monolog, den die Schule lange Zeit für ein Meisterstück ausgegeben hat, und der beiläufig auch ein sehr gutes Bild von der Geba»kenassociation des Dich¬ ters und von seinem Vers gibt, lautet folgendermaßen: ^>i! e'chi, un Il,^» sucelai:!« ^ ri>,oil' I.'i, ni-n»«!,', Huc I'Lnropv, »insi k-üls, vt vomuie U *) I'» laigsvv! *) Karl der Große.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279547/497>, abgerufen am 15.01.2025.