Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band.Oekonomie sichtbar, und in der Analyse eine poetische Logik, die in den einzelnen Dieser Mangel an historischem Sinn zeigt sich in Hugo's sämmtlichen Tra¬ Oekonomie sichtbar, und in der Analyse eine poetische Logik, die in den einzelnen Dieser Mangel an historischem Sinn zeigt sich in Hugo's sämmtlichen Tra¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0496" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/280044"/> <p xml:id="ID_1718" prev="#ID_1717"> Oekonomie sichtbar, und in der Analyse eine poetische Logik, die in den einzelnen<lb/> Momenten eines Charakters die Totalität nie ans den Augen verliert. Unser<lb/> Cromwell enthält die verschiedenen Momente, die Victor Hugo aus Woodstock<lb/> lernen konnte, in großer Ausführlichkeit, aber ohne den ordnenden Verstand des<lb/> Dichters. Cromwells Bibelgelehrsamkeit wird nicht blos angedeutet, sondern in<lb/> unendlich langen lächerlichen Reden, die nicht einmal, sondern zehnmal wieder¬<lb/> kommen, bis zum Uebermaß der Langeweile ausgeführt; seine diplomatische Fähig¬<lb/> keit erschöpft sich in zwanzig Anekdoten, ebenso seine ursprüngliche Gutmüthigkeit,<lb/> sein Ehrgeiz, sein Familienleben, seine ästhetische» Ansichten, sein theologischer<lb/> Fanatismus und seine Verschmitztheit; für diese widersprechenden Eigenschaften aber<lb/> den Leitton zu finden, hat der Dichter nicht für nöthig gehalten. Mit der Em¬<lb/> pfindung wechselt der Held die Sprache, und vergißt seine poetische Vergangen¬<lb/> heit in jedem Augenblick. Neben ihm drängen sich vor allen Parteien eine über¬<lb/> strömende Menge Statisten auf die Bühne, von denen jeder reden will, keiner<lb/> den andern zu Worte kommen läßt. Der echte Royalist (Ormond) — jene<lb/> stereotype Charaktermaske des Feudaladels, auf die ich schon hingedeutet habe, —<lb/> und der echte Puritaner (Karr), der noch längere, noch lächerlichere Reden hält,<lb/> als Cromwell, noch unsinniger mit der Bibel umspringt, und noch weniger mensch¬<lb/> liche Berechtigung hat; ein liederlicher Kavalier (Rochester), der seine abgeschmack¬<lb/> ten Ansichten über lyrische Poesie auf das Breiteste vorträgt, und sich in eine<lb/> Menge ebenso alberner als zweckloser Liebesabenteuer einläßt; ein zweites Exem¬<lb/> plar derselben Sorte, Cromwell's Sohn; ein feiler Spion, der ganz überflüssig<lb/> ist; ein habsüchtiger Jude, der zugleich den abergläubischen Astrologen vorstellt,<lb/> und der wirklich die Geheimnisse der Sternenwelt erforscht zu haben scheint; der<lb/> Dichter Milton, der von dem schlechten Geschmack des Protectors an das Urtheil<lb/> der Nachwelt appellirt; eine Menge Hofleute und Diplomaten, von denen der eine<lb/> gerade so aussieht als der andere, Cromwells Familie, und zum Ueberfluß statt<lb/> Eines Clown's vier Hofnarren in Livree, die zu ihren Späßen immer die unge¬<lb/> legenste Zeit wählen. Rechne man dazu noch ein Chaos von Mißverständnissen,<lb/> die einer Menächmenkvmödie oder einem spanischen Jntriguenstück Ehre gemacht<lb/> haben würden, und Unwahrscheinlichkeiten, die eine wahrhaft orientalische Phan¬<lb/> tasie verrathen; ferner den Mangel an Haltung, der sich selbst in dem Ton auf<lb/> eine Weise verräth, daß man gar nicht begreift, wie alle diese Personen in einer<lb/> und derselben Zeit leben konnten, und die dramatische Ungeschicklichkeit, welche die<lb/> nämliche Spannung ein paarmal wiederkehren läßt, so wird man das Urtheil ge¬<lb/> recht finden, das dieses Stück in historischer wie in künstlerischer Hinsicht als eine<lb/> Monstrosität verwirft. Denn von dem großen Charakter der Zeit ist keine Spur<lb/> geblieben; man bewegt sich unter Narren, Schurken und „guten Kerlen."</p><lb/> <p xml:id="ID_1719" next="#ID_1720"> Dieser Mangel an historischem Sinn zeigt sich in Hugo's sämmtlichen Tra¬<lb/> gödien. Die geschichtlichen Personen, die er aufführt, sind Portraits in schlechtem</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0496]
Oekonomie sichtbar, und in der Analyse eine poetische Logik, die in den einzelnen
Momenten eines Charakters die Totalität nie ans den Augen verliert. Unser
Cromwell enthält die verschiedenen Momente, die Victor Hugo aus Woodstock
lernen konnte, in großer Ausführlichkeit, aber ohne den ordnenden Verstand des
Dichters. Cromwells Bibelgelehrsamkeit wird nicht blos angedeutet, sondern in
unendlich langen lächerlichen Reden, die nicht einmal, sondern zehnmal wieder¬
kommen, bis zum Uebermaß der Langeweile ausgeführt; seine diplomatische Fähig¬
keit erschöpft sich in zwanzig Anekdoten, ebenso seine ursprüngliche Gutmüthigkeit,
sein Ehrgeiz, sein Familienleben, seine ästhetische» Ansichten, sein theologischer
Fanatismus und seine Verschmitztheit; für diese widersprechenden Eigenschaften aber
den Leitton zu finden, hat der Dichter nicht für nöthig gehalten. Mit der Em¬
pfindung wechselt der Held die Sprache, und vergißt seine poetische Vergangen¬
heit in jedem Augenblick. Neben ihm drängen sich vor allen Parteien eine über¬
strömende Menge Statisten auf die Bühne, von denen jeder reden will, keiner
den andern zu Worte kommen läßt. Der echte Royalist (Ormond) — jene
stereotype Charaktermaske des Feudaladels, auf die ich schon hingedeutet habe, —
und der echte Puritaner (Karr), der noch längere, noch lächerlichere Reden hält,
als Cromwell, noch unsinniger mit der Bibel umspringt, und noch weniger mensch¬
liche Berechtigung hat; ein liederlicher Kavalier (Rochester), der seine abgeschmack¬
ten Ansichten über lyrische Poesie auf das Breiteste vorträgt, und sich in eine
Menge ebenso alberner als zweckloser Liebesabenteuer einläßt; ein zweites Exem¬
plar derselben Sorte, Cromwell's Sohn; ein feiler Spion, der ganz überflüssig
ist; ein habsüchtiger Jude, der zugleich den abergläubischen Astrologen vorstellt,
und der wirklich die Geheimnisse der Sternenwelt erforscht zu haben scheint; der
Dichter Milton, der von dem schlechten Geschmack des Protectors an das Urtheil
der Nachwelt appellirt; eine Menge Hofleute und Diplomaten, von denen der eine
gerade so aussieht als der andere, Cromwells Familie, und zum Ueberfluß statt
Eines Clown's vier Hofnarren in Livree, die zu ihren Späßen immer die unge¬
legenste Zeit wählen. Rechne man dazu noch ein Chaos von Mißverständnissen,
die einer Menächmenkvmödie oder einem spanischen Jntriguenstück Ehre gemacht
haben würden, und Unwahrscheinlichkeiten, die eine wahrhaft orientalische Phan¬
tasie verrathen; ferner den Mangel an Haltung, der sich selbst in dem Ton auf
eine Weise verräth, daß man gar nicht begreift, wie alle diese Personen in einer
und derselben Zeit leben konnten, und die dramatische Ungeschicklichkeit, welche die
nämliche Spannung ein paarmal wiederkehren läßt, so wird man das Urtheil ge¬
recht finden, das dieses Stück in historischer wie in künstlerischer Hinsicht als eine
Monstrosität verwirft. Denn von dem großen Charakter der Zeit ist keine Spur
geblieben; man bewegt sich unter Narren, Schurken und „guten Kerlen."
Dieser Mangel an historischem Sinn zeigt sich in Hugo's sämmtlichen Tra¬
gödien. Die geschichtlichen Personen, die er aufführt, sind Portraits in schlechtem
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