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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band.

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die Krebse mit den Schaalen ißt, siedend heißen Rum ans einer glühenden Kasse¬
rolle trinkt, sich nie wäscht, mit Kettenhunden sich zwar nicht herumbeißt, wie
Han, aber doch ein phantastisches Vergnügen daran findet, sie durch Geheul und
Grimassen zu ärgern, aber man verzeiht ihm diese Tollheiten, weil er belustigt.
Es ist erlaubt, zu lügen, wenn man das Talent eines Münchhausen mit Vor¬
schein Humor verbindet. Unser Isländer aber hat einen tragischen Zweck, und
muß diesen verfehlen, da wir in seinem Wesen keine Seite finden, durch die er
unserm Gefühl verständlich wird. Wenn z. B. E. T. A. Hoffmann einen derar¬
tigen Menschenfresser hätte schildern wollen, so würde er zuerst leise die Saite
angeschlagen haben, die verborgen in jeder Menschenseele schlummert, die Nei¬
gung zum Wahnsinn, er würde sie immer stärker und unheimlicher rühren, während
im Uebrigen die Melodie fortgeht, bis plötzlich in den vollen Akkord die grelle,
schneidende, gräßliche Dissonanz einschlägt, die uns entsetzt, aber uns nicht abso¬
lut verkehrt vorkommt. Han dagegen macht den Eindruck, als wenn wir eine
bekannte Melodie mit obligaten Quinten begleiten.

Auch jene pathologische Geschicklichkeit ist verwerflich, denn die Nachtseite der
menschlichen Natur soll anch in der Kunst bleiben, wo sie hingehört, aber sie ver¬
fehlt ihre -- schlechte -- Wirkung nicht. Die Nachtstücke, die Teufelselixiere,
jene Geschichte in den Pickwickiern, wo Jemand das allmälige Herannahen des
Wahnsinns schildert, der wie ein düstrer Nachtvogel seinen Geist mit den schwar¬
zen Schwingen immer näher überschattet -- man wird sie nicht ohne einen gehei¬
men Schänder, ja nicht ohne einen gewissen krankhaften Reiz verfolgen können,
so sehr man sie verwirft, denn es ist nur das ungesunde Anschwellen eines Keimes,
den jeder Mensch in sich selber findet. Die neue Romantik aber, welche jene un¬
heimlichen Gestalten lediglich aus dem Witz schöpft, versäumt diese subjective Ver¬
mittelung, und stellt sie nackt, womöglich in pragmatischer Gründlichkeit, als Zerrbilder
uns gegenüber. Seit dem Han sind eine unerhörte Menge ähnlicher Monstrositä¬
ten über die Bühne gegangen. Ich rechne W. Scott's schwarzen Zwerg ebenfalls
dahin, eine Mißgeburt, die wunderlich mit dem sonst so verständigen Wesen des
Dichters contrastirt. Aber die Katzenberger'sche Neigung zu Ungeheuern war epi¬
demisch geworden. Ein englischer Romancier, Harrison Ainsworth, hat fast nur
mit Gespenstern, Teufeln, Räubern, Mördern und dergl. zu thun, ja in einem
seiner Romane Windsor-castle, erfährt man von dem Haupthelden, dem Jäger
Herre, selbst am Schlüsse nicht, ob er ein Gespenst, ein Teufel, ein verwuuscheuer
Prinz, ein Räuber, ein Geächteter oder was sonst ist; vielleicht eine Hexenbrühe
aus allen diesen Ingredienzien, den" als gutes Gespenst verschwindet er, geht durch
die Wände, glüht u. s. w., aber baun wird er auch verwundet, schreit, klagt
und setzt den wißbegierigen Leser fortwährend durch unmotivirte Einfälle in Ver¬
legenheit. Daß die meisten Figuren in Eugen Sue, Souliv, Jules Janin und
der ganzen Schule verkappte Ungeheuer sind, ist schon bemerkt worden. Dickens


die Krebse mit den Schaalen ißt, siedend heißen Rum ans einer glühenden Kasse¬
rolle trinkt, sich nie wäscht, mit Kettenhunden sich zwar nicht herumbeißt, wie
Han, aber doch ein phantastisches Vergnügen daran findet, sie durch Geheul und
Grimassen zu ärgern, aber man verzeiht ihm diese Tollheiten, weil er belustigt.
Es ist erlaubt, zu lügen, wenn man das Talent eines Münchhausen mit Vor¬
schein Humor verbindet. Unser Isländer aber hat einen tragischen Zweck, und
muß diesen verfehlen, da wir in seinem Wesen keine Seite finden, durch die er
unserm Gefühl verständlich wird. Wenn z. B. E. T. A. Hoffmann einen derar¬
tigen Menschenfresser hätte schildern wollen, so würde er zuerst leise die Saite
angeschlagen haben, die verborgen in jeder Menschenseele schlummert, die Nei¬
gung zum Wahnsinn, er würde sie immer stärker und unheimlicher rühren, während
im Uebrigen die Melodie fortgeht, bis plötzlich in den vollen Akkord die grelle,
schneidende, gräßliche Dissonanz einschlägt, die uns entsetzt, aber uns nicht abso¬
lut verkehrt vorkommt. Han dagegen macht den Eindruck, als wenn wir eine
bekannte Melodie mit obligaten Quinten begleiten.

Auch jene pathologische Geschicklichkeit ist verwerflich, denn die Nachtseite der
menschlichen Natur soll anch in der Kunst bleiben, wo sie hingehört, aber sie ver¬
fehlt ihre — schlechte — Wirkung nicht. Die Nachtstücke, die Teufelselixiere,
jene Geschichte in den Pickwickiern, wo Jemand das allmälige Herannahen des
Wahnsinns schildert, der wie ein düstrer Nachtvogel seinen Geist mit den schwar¬
zen Schwingen immer näher überschattet — man wird sie nicht ohne einen gehei¬
men Schänder, ja nicht ohne einen gewissen krankhaften Reiz verfolgen können,
so sehr man sie verwirft, denn es ist nur das ungesunde Anschwellen eines Keimes,
den jeder Mensch in sich selber findet. Die neue Romantik aber, welche jene un¬
heimlichen Gestalten lediglich aus dem Witz schöpft, versäumt diese subjective Ver¬
mittelung, und stellt sie nackt, womöglich in pragmatischer Gründlichkeit, als Zerrbilder
uns gegenüber. Seit dem Han sind eine unerhörte Menge ähnlicher Monstrositä¬
ten über die Bühne gegangen. Ich rechne W. Scott's schwarzen Zwerg ebenfalls
dahin, eine Mißgeburt, die wunderlich mit dem sonst so verständigen Wesen des
Dichters contrastirt. Aber die Katzenberger'sche Neigung zu Ungeheuern war epi¬
demisch geworden. Ein englischer Romancier, Harrison Ainsworth, hat fast nur
mit Gespenstern, Teufeln, Räubern, Mördern und dergl. zu thun, ja in einem
seiner Romane Windsor-castle, erfährt man von dem Haupthelden, dem Jäger
Herre, selbst am Schlüsse nicht, ob er ein Gespenst, ein Teufel, ein verwuuscheuer
Prinz, ein Räuber, ein Geächteter oder was sonst ist; vielleicht eine Hexenbrühe
aus allen diesen Ingredienzien, den» als gutes Gespenst verschwindet er, geht durch
die Wände, glüht u. s. w., aber baun wird er auch verwundet, schreit, klagt
und setzt den wißbegierigen Leser fortwährend durch unmotivirte Einfälle in Ver¬
legenheit. Daß die meisten Figuren in Eugen Sue, Souliv, Jules Janin und
der ganzen Schule verkappte Ungeheuer sind, ist schon bemerkt worden. Dickens


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[0411] die Krebse mit den Schaalen ißt, siedend heißen Rum ans einer glühenden Kasse¬ rolle trinkt, sich nie wäscht, mit Kettenhunden sich zwar nicht herumbeißt, wie Han, aber doch ein phantastisches Vergnügen daran findet, sie durch Geheul und Grimassen zu ärgern, aber man verzeiht ihm diese Tollheiten, weil er belustigt. Es ist erlaubt, zu lügen, wenn man das Talent eines Münchhausen mit Vor¬ schein Humor verbindet. Unser Isländer aber hat einen tragischen Zweck, und muß diesen verfehlen, da wir in seinem Wesen keine Seite finden, durch die er unserm Gefühl verständlich wird. Wenn z. B. E. T. A. Hoffmann einen derar¬ tigen Menschenfresser hätte schildern wollen, so würde er zuerst leise die Saite angeschlagen haben, die verborgen in jeder Menschenseele schlummert, die Nei¬ gung zum Wahnsinn, er würde sie immer stärker und unheimlicher rühren, während im Uebrigen die Melodie fortgeht, bis plötzlich in den vollen Akkord die grelle, schneidende, gräßliche Dissonanz einschlägt, die uns entsetzt, aber uns nicht abso¬ lut verkehrt vorkommt. Han dagegen macht den Eindruck, als wenn wir eine bekannte Melodie mit obligaten Quinten begleiten. Auch jene pathologische Geschicklichkeit ist verwerflich, denn die Nachtseite der menschlichen Natur soll anch in der Kunst bleiben, wo sie hingehört, aber sie ver¬ fehlt ihre — schlechte — Wirkung nicht. Die Nachtstücke, die Teufelselixiere, jene Geschichte in den Pickwickiern, wo Jemand das allmälige Herannahen des Wahnsinns schildert, der wie ein düstrer Nachtvogel seinen Geist mit den schwar¬ zen Schwingen immer näher überschattet — man wird sie nicht ohne einen gehei¬ men Schänder, ja nicht ohne einen gewissen krankhaften Reiz verfolgen können, so sehr man sie verwirft, denn es ist nur das ungesunde Anschwellen eines Keimes, den jeder Mensch in sich selber findet. Die neue Romantik aber, welche jene un¬ heimlichen Gestalten lediglich aus dem Witz schöpft, versäumt diese subjective Ver¬ mittelung, und stellt sie nackt, womöglich in pragmatischer Gründlichkeit, als Zerrbilder uns gegenüber. Seit dem Han sind eine unerhörte Menge ähnlicher Monstrositä¬ ten über die Bühne gegangen. Ich rechne W. Scott's schwarzen Zwerg ebenfalls dahin, eine Mißgeburt, die wunderlich mit dem sonst so verständigen Wesen des Dichters contrastirt. Aber die Katzenberger'sche Neigung zu Ungeheuern war epi¬ demisch geworden. Ein englischer Romancier, Harrison Ainsworth, hat fast nur mit Gespenstern, Teufeln, Räubern, Mördern und dergl. zu thun, ja in einem seiner Romane Windsor-castle, erfährt man von dem Haupthelden, dem Jäger Herre, selbst am Schlüsse nicht, ob er ein Gespenst, ein Teufel, ein verwuuscheuer Prinz, ein Räuber, ein Geächteter oder was sonst ist; vielleicht eine Hexenbrühe aus allen diesen Ingredienzien, den» als gutes Gespenst verschwindet er, geht durch die Wände, glüht u. s. w., aber baun wird er auch verwundet, schreit, klagt und setzt den wißbegierigen Leser fortwährend durch unmotivirte Einfälle in Ver¬ legenheit. Daß die meisten Figuren in Eugen Sue, Souliv, Jules Janin und der ganzen Schule verkappte Ungeheuer sind, ist schon bemerkt worden. Dickens

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279547/411>, abgerufen am 15.01.2025.