Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

nommer, und daher mit der freien Entwickelung des Geistes nicht verträglich;
der Geist mußte sich endlich empören und that eA, als die Revolution den Boden
des Glaubens, des sittlichen Lebens, der ganzen Ideenwelt aufgelockert hatte.
Aber der in den Abstraktionen des Katholicismus aufgewachsene Geist empörte sich
nicht in der Form eines subjectiven, energischen Glaubens, einer neuen, überströ¬
menden Liebe, wie es in dem protestantischen Deutschland am Ende des vorigen
Jahrhunderts geschehn war; er flehte nicht das innere, intensive Leben seinen ab¬
gelegten, verhärteten Formen entgegen, sondern die Reflexion und den Witz.
Entweder widerlegte er die Bestimmtheit des conventionellen Ideals durch eine
unbestimmte, gegenstandlose, süßlich träumerische Empfindungsweise, durch einen
überschwenglichen Spiritualismus ohne Jntensivität, durch einen Himmel ohne
Formen, wie Chateaubriand, Lamartine und ihre Schule; oder er erdrückte sie
in dem Wust des Details, der rohen, empirisch aufgenommenen Materie. Victor
Hugo's Gottesdienst ist ein chaotischer Pantheismus, indem die Masse entscheidet,
in dem der Mensch sich dem Stein, der Landschaft, der Architektur als Ara¬
beske anschmiegen muß, in dem sogar die geistige Regung, Liebe n. s. w. nur
in der animalischen Natur sich äußert, in der freilich die andere Seite, die ganz
aus Aether gewebte zarte Seele, der die Elasticität der antiken Venus und selbst
die Madonna Rafael's uoch viel zu körperlich erscheint, als einzelne Erscheinung mit
vorkommt, aber mit dem Schnppculcibe angeheftet an das Chaos der seelenlosen
Gestalten. Ein echter Katholik, läßt er den von der Natur geschiedenen Aetherstoff
neben der Ungestalt der entgöttertcn Erde bestehn, er combinirt beide mit einan¬
der auf die zweckwidrige Weise des bekannten Prinzen von Pelagonia, aber er
weiß weder die Natur zu vergeistigen, uoch dem Geist Natur zu geben. Es ist
nicht die Reaction der energischen Empfindung gegen das Gemachte der Sitte,
wie bei Goethe und seinen Zeitgenossen, sondern die Reaction der willkürlich com-
binirenden Phantasie gegen die Regel und das Gesetz.

Fassen wir, um dies deutlicher zu machen, die Figur des Jsländers uoch ein¬
mal genauer in's Auge.

Wenn wir im Leben einem menschlich aussehenden Wesen begegneten, welches,
ehe wir es uns versahen, uns im Nacken säße und uns anbisse, so würden wir
freilich in einen argen Schreck gerathen. Beim Lesen aber, wo nur außerhalb
der Schußlinie sind, können wir über diese zweckwidrigen Unternehmungen, das
Trinken von Seewasser und Menschenblut, das fortwährende Heulen, das Reiten
auf einem Eisbären u. f. w. höchstens lachen. Aber wir müssen den Humor erst
hineinlegen, denn in Victor Hugo selbst ist keine Spur davon, es ist ihm baarer
Ernst mit seinen Ungeheuern. In seinem Ouilp (Ur. Ilumnlu-Ly's clock) hat
Dickens, der in der Zeichnung häßlicher Figuren mit unserm Dichter wetteifert,
deu Hau von Island zu seinem Recht gebracht, indem er ihn humoristisch ideali-
sirte. Quilp ist auch ein boshafter, körperlich starker und gewandter Zwerg, der


nommer, und daher mit der freien Entwickelung des Geistes nicht verträglich;
der Geist mußte sich endlich empören und that eA, als die Revolution den Boden
des Glaubens, des sittlichen Lebens, der ganzen Ideenwelt aufgelockert hatte.
Aber der in den Abstraktionen des Katholicismus aufgewachsene Geist empörte sich
nicht in der Form eines subjectiven, energischen Glaubens, einer neuen, überströ¬
menden Liebe, wie es in dem protestantischen Deutschland am Ende des vorigen
Jahrhunderts geschehn war; er flehte nicht das innere, intensive Leben seinen ab¬
gelegten, verhärteten Formen entgegen, sondern die Reflexion und den Witz.
Entweder widerlegte er die Bestimmtheit des conventionellen Ideals durch eine
unbestimmte, gegenstandlose, süßlich träumerische Empfindungsweise, durch einen
überschwenglichen Spiritualismus ohne Jntensivität, durch einen Himmel ohne
Formen, wie Chateaubriand, Lamartine und ihre Schule; oder er erdrückte sie
in dem Wust des Details, der rohen, empirisch aufgenommenen Materie. Victor
Hugo's Gottesdienst ist ein chaotischer Pantheismus, indem die Masse entscheidet,
in dem der Mensch sich dem Stein, der Landschaft, der Architektur als Ara¬
beske anschmiegen muß, in dem sogar die geistige Regung, Liebe n. s. w. nur
in der animalischen Natur sich äußert, in der freilich die andere Seite, die ganz
aus Aether gewebte zarte Seele, der die Elasticität der antiken Venus und selbst
die Madonna Rafael's uoch viel zu körperlich erscheint, als einzelne Erscheinung mit
vorkommt, aber mit dem Schnppculcibe angeheftet an das Chaos der seelenlosen
Gestalten. Ein echter Katholik, läßt er den von der Natur geschiedenen Aetherstoff
neben der Ungestalt der entgöttertcn Erde bestehn, er combinirt beide mit einan¬
der auf die zweckwidrige Weise des bekannten Prinzen von Pelagonia, aber er
weiß weder die Natur zu vergeistigen, uoch dem Geist Natur zu geben. Es ist
nicht die Reaction der energischen Empfindung gegen das Gemachte der Sitte,
wie bei Goethe und seinen Zeitgenossen, sondern die Reaction der willkürlich com-
binirenden Phantasie gegen die Regel und das Gesetz.

Fassen wir, um dies deutlicher zu machen, die Figur des Jsländers uoch ein¬
mal genauer in's Auge.

Wenn wir im Leben einem menschlich aussehenden Wesen begegneten, welches,
ehe wir es uns versahen, uns im Nacken säße und uns anbisse, so würden wir
freilich in einen argen Schreck gerathen. Beim Lesen aber, wo nur außerhalb
der Schußlinie sind, können wir über diese zweckwidrigen Unternehmungen, das
Trinken von Seewasser und Menschenblut, das fortwährende Heulen, das Reiten
auf einem Eisbären u. f. w. höchstens lachen. Aber wir müssen den Humor erst
hineinlegen, denn in Victor Hugo selbst ist keine Spur davon, es ist ihm baarer
Ernst mit seinen Ungeheuern. In seinem Ouilp (Ur. Ilumnlu-Ly's clock) hat
Dickens, der in der Zeichnung häßlicher Figuren mit unserm Dichter wetteifert,
deu Hau von Island zu seinem Recht gebracht, indem er ihn humoristisch ideali-
sirte. Quilp ist auch ein boshafter, körperlich starker und gewandter Zwerg, der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <div n="3">
              <pb facs="#f0410" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/279958"/>
              <p xml:id="ID_1443" prev="#ID_1442"> nommer, und daher mit der freien Entwickelung des Geistes nicht verträglich;<lb/>
der Geist mußte sich endlich empören und that eA, als die Revolution den Boden<lb/>
des Glaubens, des sittlichen Lebens, der ganzen Ideenwelt aufgelockert hatte.<lb/>
Aber der in den Abstraktionen des Katholicismus aufgewachsene Geist empörte sich<lb/>
nicht in der Form eines subjectiven, energischen Glaubens, einer neuen, überströ¬<lb/>
menden Liebe, wie es in dem protestantischen Deutschland am Ende des vorigen<lb/>
Jahrhunderts geschehn war; er flehte nicht das innere, intensive Leben seinen ab¬<lb/>
gelegten, verhärteten Formen entgegen, sondern die Reflexion und den Witz.<lb/>
Entweder widerlegte er die Bestimmtheit des conventionellen Ideals durch eine<lb/>
unbestimmte, gegenstandlose, süßlich träumerische Empfindungsweise, durch einen<lb/>
überschwenglichen Spiritualismus ohne Jntensivität, durch einen Himmel ohne<lb/>
Formen, wie Chateaubriand, Lamartine und ihre Schule; oder er erdrückte sie<lb/>
in dem Wust des Details, der rohen, empirisch aufgenommenen Materie. Victor<lb/>
Hugo's Gottesdienst ist ein chaotischer Pantheismus, indem die Masse entscheidet,<lb/>
in dem der Mensch sich dem Stein, der Landschaft, der Architektur als Ara¬<lb/>
beske anschmiegen muß, in dem sogar die geistige Regung, Liebe n. s. w. nur<lb/>
in der animalischen Natur sich äußert, in der freilich die andere Seite, die ganz<lb/>
aus Aether gewebte zarte Seele, der die Elasticität der antiken Venus und selbst<lb/>
die Madonna Rafael's uoch viel zu körperlich erscheint, als einzelne Erscheinung mit<lb/>
vorkommt, aber mit dem Schnppculcibe angeheftet an das Chaos der seelenlosen<lb/>
Gestalten. Ein echter Katholik, läßt er den von der Natur geschiedenen Aetherstoff<lb/>
neben der Ungestalt der entgöttertcn Erde bestehn, er combinirt beide mit einan¬<lb/>
der auf die zweckwidrige Weise des bekannten Prinzen von Pelagonia, aber er<lb/>
weiß weder die Natur zu vergeistigen, uoch dem Geist Natur zu geben. Es ist<lb/>
nicht die Reaction der energischen Empfindung gegen das Gemachte der Sitte,<lb/>
wie bei Goethe und seinen Zeitgenossen, sondern die Reaction der willkürlich com-<lb/>
binirenden Phantasie gegen die Regel und das Gesetz.</p><lb/>
              <p xml:id="ID_1444"> Fassen wir, um dies deutlicher zu machen, die Figur des Jsländers uoch ein¬<lb/>
mal genauer in's Auge.</p><lb/>
              <p xml:id="ID_1445" next="#ID_1446"> Wenn wir im Leben einem menschlich aussehenden Wesen begegneten, welches,<lb/>
ehe wir es uns versahen, uns im Nacken säße und uns anbisse, so würden wir<lb/>
freilich in einen argen Schreck gerathen. Beim Lesen aber, wo nur außerhalb<lb/>
der Schußlinie sind, können wir über diese zweckwidrigen Unternehmungen, das<lb/>
Trinken von Seewasser und Menschenblut, das fortwährende Heulen, das Reiten<lb/>
auf einem Eisbären u. f. w. höchstens lachen. Aber wir müssen den Humor erst<lb/>
hineinlegen, denn in Victor Hugo selbst ist keine Spur davon, es ist ihm baarer<lb/>
Ernst mit seinen Ungeheuern. In seinem Ouilp (Ur. Ilumnlu-Ly's clock) hat<lb/>
Dickens, der in der Zeichnung häßlicher Figuren mit unserm Dichter wetteifert,<lb/>
deu Hau von Island zu seinem Recht gebracht, indem er ihn humoristisch ideali-<lb/>
sirte. Quilp ist auch ein boshafter, körperlich starker und gewandter Zwerg, der</p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0410] nommer, und daher mit der freien Entwickelung des Geistes nicht verträglich; der Geist mußte sich endlich empören und that eA, als die Revolution den Boden des Glaubens, des sittlichen Lebens, der ganzen Ideenwelt aufgelockert hatte. Aber der in den Abstraktionen des Katholicismus aufgewachsene Geist empörte sich nicht in der Form eines subjectiven, energischen Glaubens, einer neuen, überströ¬ menden Liebe, wie es in dem protestantischen Deutschland am Ende des vorigen Jahrhunderts geschehn war; er flehte nicht das innere, intensive Leben seinen ab¬ gelegten, verhärteten Formen entgegen, sondern die Reflexion und den Witz. Entweder widerlegte er die Bestimmtheit des conventionellen Ideals durch eine unbestimmte, gegenstandlose, süßlich träumerische Empfindungsweise, durch einen überschwenglichen Spiritualismus ohne Jntensivität, durch einen Himmel ohne Formen, wie Chateaubriand, Lamartine und ihre Schule; oder er erdrückte sie in dem Wust des Details, der rohen, empirisch aufgenommenen Materie. Victor Hugo's Gottesdienst ist ein chaotischer Pantheismus, indem die Masse entscheidet, in dem der Mensch sich dem Stein, der Landschaft, der Architektur als Ara¬ beske anschmiegen muß, in dem sogar die geistige Regung, Liebe n. s. w. nur in der animalischen Natur sich äußert, in der freilich die andere Seite, die ganz aus Aether gewebte zarte Seele, der die Elasticität der antiken Venus und selbst die Madonna Rafael's uoch viel zu körperlich erscheint, als einzelne Erscheinung mit vorkommt, aber mit dem Schnppculcibe angeheftet an das Chaos der seelenlosen Gestalten. Ein echter Katholik, läßt er den von der Natur geschiedenen Aetherstoff neben der Ungestalt der entgöttertcn Erde bestehn, er combinirt beide mit einan¬ der auf die zweckwidrige Weise des bekannten Prinzen von Pelagonia, aber er weiß weder die Natur zu vergeistigen, uoch dem Geist Natur zu geben. Es ist nicht die Reaction der energischen Empfindung gegen das Gemachte der Sitte, wie bei Goethe und seinen Zeitgenossen, sondern die Reaction der willkürlich com- binirenden Phantasie gegen die Regel und das Gesetz. Fassen wir, um dies deutlicher zu machen, die Figur des Jsländers uoch ein¬ mal genauer in's Auge. Wenn wir im Leben einem menschlich aussehenden Wesen begegneten, welches, ehe wir es uns versahen, uns im Nacken säße und uns anbisse, so würden wir freilich in einen argen Schreck gerathen. Beim Lesen aber, wo nur außerhalb der Schußlinie sind, können wir über diese zweckwidrigen Unternehmungen, das Trinken von Seewasser und Menschenblut, das fortwährende Heulen, das Reiten auf einem Eisbären u. f. w. höchstens lachen. Aber wir müssen den Humor erst hineinlegen, denn in Victor Hugo selbst ist keine Spur davon, es ist ihm baarer Ernst mit seinen Ungeheuern. In seinem Ouilp (Ur. Ilumnlu-Ly's clock) hat Dickens, der in der Zeichnung häßlicher Figuren mit unserm Dichter wetteifert, deu Hau von Island zu seinem Recht gebracht, indem er ihn humoristisch ideali- sirte. Quilp ist auch ein boshafter, körperlich starker und gewandter Zwerg, der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279547
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279547/410
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279547/410>, abgerufen am 15.01.2025.