Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band.phantastische Formen verleiht, mußte dieses Ungeheuer eine wahre Studie für den Dich¬ phantastische Formen verleiht, mußte dieses Ungeheuer eine wahre Studie für den Dich¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0408" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/279956"/> <p xml:id="ID_1439" prev="#ID_1438" next="#ID_1440"> phantastische Formen verleiht, mußte dieses Ungeheuer eine wahre Studie für den Dich¬<lb/> ter des Häßlichen werden, und nur die unreife Bildung desselben hat ihn verhindert, den<lb/> unvergleichlichen Stoff so auszubeuten, wie es später namentlich Eugen Sue und<lb/> Frvdvric Svuliv gethan haben. In den letzten Tagen eines zum Tod Be¬<lb/> urtheilten (1829) ist zwar der Vorwand gebraucht, ans einen bestimmten po¬<lb/> litischen Zweck, die Abschaffung der Todesstrafe, hinzuarbeiten, ungefähr wie Eugen<lb/> Sue jedesmal am Schluß eines Kapitels, in dem seine wollüstige Phantasie sich<lb/> an irgend welchen unnatürlichen Greueln geweidet hat, gleichsam zur Entschuldi¬<lb/> gung hinzusetzt, er thue es nur, um vor ähnlichen Schändlichkeiten zu warnen,<lb/> aber der Umstand, daß die Todesstrafe für den Beteiligten etwas Unangenehmes<lb/> hat, ist ohnehin bekannt genng, und würde an sich die Abschaffung derselben nicht<lb/> motiviren, und so bleibt als eigentlicher Gegenstand jenes wunderlichen Buchs,<lb/> in welchem vou einer geistigen, sittlichen, allgemein menschlichen Empfindung keine<lb/> Spur sich findet, nur die Freude eines anatomischen Virtuosen, das Fleisch unter<lb/> den Qualen der Phantasie zu grotesken Zuckungen und Verrentnnge» zu galva-<lb/> nisiren. — Das blos physische Leiden als Gegenstand der Poesie entspricht der<lb/> physischen Difformität, in so fern sie zu tragischen Verwickelungen benutzt wird. —<lb/> Im Cromwell (1827) ist der shakespearesche Clown in vier Narren gespalten,<lb/> die durch ihre Massenhaftigkeit den Grundgedanken des Dichters, der über den<lb/> Leidenschaften der Menschen schwebend, das sogenannte Große in seine endlichen<lb/> und darum verächtlichen Elemente zersetzt, der Handlung in jedem Augenblick auf¬<lb/> drängen. In Notre Dame (18!N) erreicht das physische Ungeheuer in der Per¬<lb/> son das Quasimodo seine höchste Vollendung. Zwerg, bucklig, ein Koboldgestcht,<lb/> einäugig, taub, in groteske Stellungen verliebt, nur im Geräusch der Glocken le¬<lb/> bend, dem einzigen Ton, den er vernimmt; dabei eine Riesenstärke ohne Verstand,<lb/> die also jeden Augenblick mit zweckwidriger Energie in den Lauf der Begeben¬<lb/> heiten einzugreifen bereit ist; und als Umgebung eine große Auswahl von Schur¬<lb/> ken und Verrückten, die in der verrufenen (üvur Wu^Jos, wo alle Spitzbuben<lb/> von Paris eine umgekehrte Weltordnung, eine umgekehrte Gerechtigkeit ausüben<lb/> (beiläufig eine Reminiscenz oder Travestie des humoristisch gehaltenen Rigel von<lb/> W. Scott), eigentlich noch den naivsten, und daher am wenigsten beleidigenden<lb/> Ausdruck finden. Triboulet (18!!2) ist wieder ein bucklicher Zwerg, Hofnarr<lb/> des Königs, dem er Späße vormachen muß, auch wenn ihm das Herz blutet, und<lb/> den er ans Bosheit wegen seiner unwürdigen Stellung zu allen möglichen Schänd¬<lb/> lichkeiten verleitet. Er ist in so fern ein Fortschritt gegen die früheren Unge¬<lb/> heuer, ein Fortschritt im romantischen Sinn, daß ihm neben seiner Difformität ein<lb/> menschliches Empfinden beigelegt ist, ein Empfinden, das seinem sonstigen Wesen<lb/> nicht organisch verbunden, sondern mechanisch angeleimt wird, und das uun durch<lb/> den Contrast wirken soll. Die grotesken Verzerrungen dieses mißgestalteten Ge¬<lb/> sichts sollen uns nicht belustigen, sondern uns rühren; wir sollen weinen über</p><lb/> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0408]
phantastische Formen verleiht, mußte dieses Ungeheuer eine wahre Studie für den Dich¬
ter des Häßlichen werden, und nur die unreife Bildung desselben hat ihn verhindert, den
unvergleichlichen Stoff so auszubeuten, wie es später namentlich Eugen Sue und
Frvdvric Svuliv gethan haben. In den letzten Tagen eines zum Tod Be¬
urtheilten (1829) ist zwar der Vorwand gebraucht, ans einen bestimmten po¬
litischen Zweck, die Abschaffung der Todesstrafe, hinzuarbeiten, ungefähr wie Eugen
Sue jedesmal am Schluß eines Kapitels, in dem seine wollüstige Phantasie sich
an irgend welchen unnatürlichen Greueln geweidet hat, gleichsam zur Entschuldi¬
gung hinzusetzt, er thue es nur, um vor ähnlichen Schändlichkeiten zu warnen,
aber der Umstand, daß die Todesstrafe für den Beteiligten etwas Unangenehmes
hat, ist ohnehin bekannt genng, und würde an sich die Abschaffung derselben nicht
motiviren, und so bleibt als eigentlicher Gegenstand jenes wunderlichen Buchs,
in welchem vou einer geistigen, sittlichen, allgemein menschlichen Empfindung keine
Spur sich findet, nur die Freude eines anatomischen Virtuosen, das Fleisch unter
den Qualen der Phantasie zu grotesken Zuckungen und Verrentnnge» zu galva-
nisiren. — Das blos physische Leiden als Gegenstand der Poesie entspricht der
physischen Difformität, in so fern sie zu tragischen Verwickelungen benutzt wird. —
Im Cromwell (1827) ist der shakespearesche Clown in vier Narren gespalten,
die durch ihre Massenhaftigkeit den Grundgedanken des Dichters, der über den
Leidenschaften der Menschen schwebend, das sogenannte Große in seine endlichen
und darum verächtlichen Elemente zersetzt, der Handlung in jedem Augenblick auf¬
drängen. In Notre Dame (18!N) erreicht das physische Ungeheuer in der Per¬
son das Quasimodo seine höchste Vollendung. Zwerg, bucklig, ein Koboldgestcht,
einäugig, taub, in groteske Stellungen verliebt, nur im Geräusch der Glocken le¬
bend, dem einzigen Ton, den er vernimmt; dabei eine Riesenstärke ohne Verstand,
die also jeden Augenblick mit zweckwidriger Energie in den Lauf der Begeben¬
heiten einzugreifen bereit ist; und als Umgebung eine große Auswahl von Schur¬
ken und Verrückten, die in der verrufenen (üvur Wu^Jos, wo alle Spitzbuben
von Paris eine umgekehrte Weltordnung, eine umgekehrte Gerechtigkeit ausüben
(beiläufig eine Reminiscenz oder Travestie des humoristisch gehaltenen Rigel von
W. Scott), eigentlich noch den naivsten, und daher am wenigsten beleidigenden
Ausdruck finden. Triboulet (18!!2) ist wieder ein bucklicher Zwerg, Hofnarr
des Königs, dem er Späße vormachen muß, auch wenn ihm das Herz blutet, und
den er ans Bosheit wegen seiner unwürdigen Stellung zu allen möglichen Schänd¬
lichkeiten verleitet. Er ist in so fern ein Fortschritt gegen die früheren Unge¬
heuer, ein Fortschritt im romantischen Sinn, daß ihm neben seiner Difformität ein
menschliches Empfinden beigelegt ist, ein Empfinden, das seinem sonstigen Wesen
nicht organisch verbunden, sondern mechanisch angeleimt wird, und das uun durch
den Contrast wirken soll. Die grotesken Verzerrungen dieses mißgestalteten Ge¬
sichts sollen uns nicht belustigen, sondern uns rühren; wir sollen weinen über
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