Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Han der Isländer.

Vor grauen Jahren lebte ans der Insel Island ein wüstes Geschöpf, halb
Teufel, halb Mensch, Jngulph der Ausrotter genannt. Sein Lebenszweck war
Ausübung vou Scheußlichkeiten. Er hinterließ dieses Geschäft seinem einzigen
Sohne, den er von einer Hexe Thvarka hatte, und in ähnlichen Vermählungen
pflanzte sich das Geschlecht der Jngnlphe mehrere Jahrhunderte hindurch fort,
bis es zuletzt in unserm Han endigte. Den Namen bekam er von der eigenthüm¬
lichen Art seines Gebrülls, welches er gleich einem wilden Thiere auszustoßen
pflegte. Er wurde als Kind von mitleidigen Mönchen in einer Wildniß aufge-
funden und in ihrem Kloster erzogen. Zum Dank zündete er das Kloster an,
setzte sich auf einen Baumstamm, und schwamm auf demselben von Is¬
land nach Norwegen, wo er den angestammten Beruf mit großer Emsigkeit
ausübte. Er verschüttete die Minen von Farott, und begrub uuter dem Schutt
einige Hundert Arbeiter, brach den Felsen der über dem Thal von Golyn hing,
zur Zeit der Kirmeß ab, und vernichtete dadurch das Dorf mit seinen sämmtlichen
Einwohnern und Gästen, sprengte eine Brücke, die über einen Abgrund führte,
im Augenblick, als sie gerade sehr besucht war, feste die Kathedrale zu Dront-
heim währeud des Gottesdienstes in Brand, löschte die Lichter am Leuchtthurm
während einer stürmischen Nacht u. s. w. Schade, daß damals (im Jahr l700)
die Eisenbahnen noch nicht erfunden waren, sie hätten ihm die angemessenste Ge¬
legenheit zur Ausübung seines Muthwillens geboten.

Trotz seiner Unmenschlichkeit hatte Hau ein Vaterherz. Als sein einziger
Sohn ertrank, war er sehr betrübt, "daß er nicht mehr den Trost haben sollte,
zu denken, daß ein Erbe der Seele Jngnlpl/s dereinst aus seinem Schädel das
Blut der Menschen und das Wasser des Meeres trinken sollte." Das waren
nämlich die beiden einzigen Flüssigkeiten, mit denen die Race ihren Durst löschte.
Er beschloß nun, seinen Sohn zu rächen. Es hatte ihn zwar keiner ermordet,
er war vielmehr durch Zufall umgekommen, aber er hatte eine Liebschaft mit
einem Mädchen gehabt, welches ihm nach der Erzählung der Leute einen Arkebu-
fier vom Regiment Mnnkholm vorgezogen haben sollte. Welcher es war, konnte
Han nicht ausmitteln; um also sicher zu gehn, beschloß er, das ganze Regiment
zu verzehren. Die Ausführung dieses Vorhabens ist der Inhalt des Romans, mit
welchem Victor Hugo debütirte.

Unser Held erfreute sich sonderbarer Angewohnheiten. Er beschnitt nie seine
"Klauen," um besser die Menschen zerreißen zu können; wenn er Incognito auf-
trat, was nicht selten geschah, so trug er große Handschuhe vou Seehundsfett.
Daß er sich nimmer wusch, versteht sich von selbst. Als Kleidung warf er ein
blutiges Fell über die Schultern, das er irgend einer noch zuckenden Bestie ab¬
gerissen. Sein einziger Freund war ein Eisbär, den er gezähmt hatte, und auf


Han der Isländer.

Vor grauen Jahren lebte ans der Insel Island ein wüstes Geschöpf, halb
Teufel, halb Mensch, Jngulph der Ausrotter genannt. Sein Lebenszweck war
Ausübung vou Scheußlichkeiten. Er hinterließ dieses Geschäft seinem einzigen
Sohne, den er von einer Hexe Thvarka hatte, und in ähnlichen Vermählungen
pflanzte sich das Geschlecht der Jngnlphe mehrere Jahrhunderte hindurch fort,
bis es zuletzt in unserm Han endigte. Den Namen bekam er von der eigenthüm¬
lichen Art seines Gebrülls, welches er gleich einem wilden Thiere auszustoßen
pflegte. Er wurde als Kind von mitleidigen Mönchen in einer Wildniß aufge-
funden und in ihrem Kloster erzogen. Zum Dank zündete er das Kloster an,
setzte sich auf einen Baumstamm, und schwamm auf demselben von Is¬
land nach Norwegen, wo er den angestammten Beruf mit großer Emsigkeit
ausübte. Er verschüttete die Minen von Farott, und begrub uuter dem Schutt
einige Hundert Arbeiter, brach den Felsen der über dem Thal von Golyn hing,
zur Zeit der Kirmeß ab, und vernichtete dadurch das Dorf mit seinen sämmtlichen
Einwohnern und Gästen, sprengte eine Brücke, die über einen Abgrund führte,
im Augenblick, als sie gerade sehr besucht war, feste die Kathedrale zu Dront-
heim währeud des Gottesdienstes in Brand, löschte die Lichter am Leuchtthurm
während einer stürmischen Nacht u. s. w. Schade, daß damals (im Jahr l700)
die Eisenbahnen noch nicht erfunden waren, sie hätten ihm die angemessenste Ge¬
legenheit zur Ausübung seines Muthwillens geboten.

Trotz seiner Unmenschlichkeit hatte Hau ein Vaterherz. Als sein einziger
Sohn ertrank, war er sehr betrübt, „daß er nicht mehr den Trost haben sollte,
zu denken, daß ein Erbe der Seele Jngnlpl/s dereinst aus seinem Schädel das
Blut der Menschen und das Wasser des Meeres trinken sollte." Das waren
nämlich die beiden einzigen Flüssigkeiten, mit denen die Race ihren Durst löschte.
Er beschloß nun, seinen Sohn zu rächen. Es hatte ihn zwar keiner ermordet,
er war vielmehr durch Zufall umgekommen, aber er hatte eine Liebschaft mit
einem Mädchen gehabt, welches ihm nach der Erzählung der Leute einen Arkebu-
fier vom Regiment Mnnkholm vorgezogen haben sollte. Welcher es war, konnte
Han nicht ausmitteln; um also sicher zu gehn, beschloß er, das ganze Regiment
zu verzehren. Die Ausführung dieses Vorhabens ist der Inhalt des Romans, mit
welchem Victor Hugo debütirte.

Unser Held erfreute sich sonderbarer Angewohnheiten. Er beschnitt nie seine
„Klauen," um besser die Menschen zerreißen zu können; wenn er Incognito auf-
trat, was nicht selten geschah, so trug er große Handschuhe vou Seehundsfett.
Daß er sich nimmer wusch, versteht sich von selbst. Als Kleidung warf er ein
blutiges Fell über die Schultern, das er irgend einer noch zuckenden Bestie ab¬
gerissen. Sein einziger Freund war ein Eisbär, den er gezähmt hatte, und auf


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0405" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/279953"/>
            <div n="3">
              <head> Han der Isländer.</head><lb/>
              <p xml:id="ID_1431"> Vor grauen Jahren lebte ans der Insel Island ein wüstes Geschöpf, halb<lb/>
Teufel, halb Mensch, Jngulph der Ausrotter genannt. Sein Lebenszweck war<lb/>
Ausübung vou Scheußlichkeiten. Er hinterließ dieses Geschäft seinem einzigen<lb/>
Sohne, den er von einer Hexe Thvarka hatte, und in ähnlichen Vermählungen<lb/>
pflanzte sich das Geschlecht der Jngnlphe mehrere Jahrhunderte hindurch fort,<lb/>
bis es zuletzt in unserm Han endigte. Den Namen bekam er von der eigenthüm¬<lb/>
lichen Art seines Gebrülls, welches er gleich einem wilden Thiere auszustoßen<lb/>
pflegte. Er wurde als Kind von mitleidigen Mönchen in einer Wildniß aufge-<lb/>
funden und in ihrem Kloster erzogen. Zum Dank zündete er das Kloster an,<lb/>
setzte sich auf einen Baumstamm, und schwamm auf demselben von Is¬<lb/>
land nach Norwegen, wo er den angestammten Beruf mit großer Emsigkeit<lb/>
ausübte. Er verschüttete die Minen von Farott, und begrub uuter dem Schutt<lb/>
einige Hundert Arbeiter, brach den Felsen der über dem Thal von Golyn hing,<lb/>
zur Zeit der Kirmeß ab, und vernichtete dadurch das Dorf mit seinen sämmtlichen<lb/>
Einwohnern und Gästen, sprengte eine Brücke, die über einen Abgrund führte,<lb/>
im Augenblick, als sie gerade sehr besucht war, feste die Kathedrale zu Dront-<lb/>
heim währeud des Gottesdienstes in Brand, löschte die Lichter am Leuchtthurm<lb/>
während einer stürmischen Nacht u. s. w. Schade, daß damals (im Jahr l700)<lb/>
die Eisenbahnen noch nicht erfunden waren, sie hätten ihm die angemessenste Ge¬<lb/>
legenheit zur Ausübung seines Muthwillens geboten.</p><lb/>
              <p xml:id="ID_1432"> Trotz seiner Unmenschlichkeit hatte Hau ein Vaterherz. Als sein einziger<lb/>
Sohn ertrank, war er sehr betrübt, &#x201E;daß er nicht mehr den Trost haben sollte,<lb/>
zu denken, daß ein Erbe der Seele Jngnlpl/s dereinst aus seinem Schädel das<lb/>
Blut der Menschen und das Wasser des Meeres trinken sollte." Das waren<lb/>
nämlich die beiden einzigen Flüssigkeiten, mit denen die Race ihren Durst löschte.<lb/>
Er beschloß nun, seinen Sohn zu rächen. Es hatte ihn zwar keiner ermordet,<lb/>
er war vielmehr durch Zufall umgekommen, aber er hatte eine Liebschaft mit<lb/>
einem Mädchen gehabt, welches ihm nach der Erzählung der Leute einen Arkebu-<lb/>
fier vom Regiment Mnnkholm vorgezogen haben sollte. Welcher es war, konnte<lb/>
Han nicht ausmitteln; um also sicher zu gehn, beschloß er, das ganze Regiment<lb/>
zu verzehren. Die Ausführung dieses Vorhabens ist der Inhalt des Romans, mit<lb/>
welchem Victor Hugo debütirte.</p><lb/>
              <p xml:id="ID_1433" next="#ID_1434"> Unser Held erfreute sich sonderbarer Angewohnheiten. Er beschnitt nie seine<lb/>
&#x201E;Klauen," um besser die Menschen zerreißen zu können; wenn er Incognito auf-<lb/>
trat, was nicht selten geschah, so trug er große Handschuhe vou Seehundsfett.<lb/>
Daß er sich nimmer wusch, versteht sich von selbst. Als Kleidung warf er ein<lb/>
blutiges Fell über die Schultern, das er irgend einer noch zuckenden Bestie ab¬<lb/>
gerissen.  Sein einziger Freund war ein Eisbär, den er gezähmt hatte, und auf</p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0405] Han der Isländer. Vor grauen Jahren lebte ans der Insel Island ein wüstes Geschöpf, halb Teufel, halb Mensch, Jngulph der Ausrotter genannt. Sein Lebenszweck war Ausübung vou Scheußlichkeiten. Er hinterließ dieses Geschäft seinem einzigen Sohne, den er von einer Hexe Thvarka hatte, und in ähnlichen Vermählungen pflanzte sich das Geschlecht der Jngnlphe mehrere Jahrhunderte hindurch fort, bis es zuletzt in unserm Han endigte. Den Namen bekam er von der eigenthüm¬ lichen Art seines Gebrülls, welches er gleich einem wilden Thiere auszustoßen pflegte. Er wurde als Kind von mitleidigen Mönchen in einer Wildniß aufge- funden und in ihrem Kloster erzogen. Zum Dank zündete er das Kloster an, setzte sich auf einen Baumstamm, und schwamm auf demselben von Is¬ land nach Norwegen, wo er den angestammten Beruf mit großer Emsigkeit ausübte. Er verschüttete die Minen von Farott, und begrub uuter dem Schutt einige Hundert Arbeiter, brach den Felsen der über dem Thal von Golyn hing, zur Zeit der Kirmeß ab, und vernichtete dadurch das Dorf mit seinen sämmtlichen Einwohnern und Gästen, sprengte eine Brücke, die über einen Abgrund führte, im Augenblick, als sie gerade sehr besucht war, feste die Kathedrale zu Dront- heim währeud des Gottesdienstes in Brand, löschte die Lichter am Leuchtthurm während einer stürmischen Nacht u. s. w. Schade, daß damals (im Jahr l700) die Eisenbahnen noch nicht erfunden waren, sie hätten ihm die angemessenste Ge¬ legenheit zur Ausübung seines Muthwillens geboten. Trotz seiner Unmenschlichkeit hatte Hau ein Vaterherz. Als sein einziger Sohn ertrank, war er sehr betrübt, „daß er nicht mehr den Trost haben sollte, zu denken, daß ein Erbe der Seele Jngnlpl/s dereinst aus seinem Schädel das Blut der Menschen und das Wasser des Meeres trinken sollte." Das waren nämlich die beiden einzigen Flüssigkeiten, mit denen die Race ihren Durst löschte. Er beschloß nun, seinen Sohn zu rächen. Es hatte ihn zwar keiner ermordet, er war vielmehr durch Zufall umgekommen, aber er hatte eine Liebschaft mit einem Mädchen gehabt, welches ihm nach der Erzählung der Leute einen Arkebu- fier vom Regiment Mnnkholm vorgezogen haben sollte. Welcher es war, konnte Han nicht ausmitteln; um also sicher zu gehn, beschloß er, das ganze Regiment zu verzehren. Die Ausführung dieses Vorhabens ist der Inhalt des Romans, mit welchem Victor Hugo debütirte. Unser Held erfreute sich sonderbarer Angewohnheiten. Er beschnitt nie seine „Klauen," um besser die Menschen zerreißen zu können; wenn er Incognito auf- trat, was nicht selten geschah, so trug er große Handschuhe vou Seehundsfett. Daß er sich nimmer wusch, versteht sich von selbst. Als Kleidung warf er ein blutiges Fell über die Schultern, das er irgend einer noch zuckenden Bestie ab¬ gerissen. Sein einziger Freund war ein Eisbär, den er gezähmt hatte, und auf

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279547
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279547/405
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279547/405>, abgerufen am 15.01.2025.