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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band.

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noch in Nußland eine Seltenheit, ja in manchen Gegenden und Familien ist es
das Gewöhnliche.

Wir kehren zur Couscriptio" zurück. Nachdem die Bauern mit dem täuschen¬
den Trostworte des Oberstlieutenants nach Hause gewiesen und die Liste der Con-
seribirten für den Herrn Chef duplirt, auch die nothgedrnngene Gastfreundschaft
des Grafen bei einem langen Mahle tüchtig in Anspruch genommen worden ist,
begibt sich die Commission nach der Oberortschaftsstadt zurück.

Fast sechs Monate später, im October, tritt die Recrutirung ein.

Es herrscht zur Zeit der Recrutirung eine tiefe, allgemeine Herzensempö¬
rung, welche i" Mienen, Geberden, Gruppen sichtbar wird. Man steht lauernd
an den Straßenecken, um die gefangenen Militärpflichtiger vvrübcrtreiben zu se¬
hen, man sammelt sich in den Kaffeehäusern der Straßen, 'welche zu dein Com-
missariate und der Citadelle führen, und erzählt sich die Gewaltthaten, welche von
den russischen Patrouillen hier oder dort ausgeübt worden siud, man eilt, den oder
jenen Militärpflichtiger noch zu warnen, und man sucht Gelegenheit, Entweich""-
gen zu veranstalten und zu ""terstützen. Allenthalben thut sich eine stille Verzweif-
lung kund, die alle Kräfte gegen die Ausübung des Gesetzes auspaunt und de"
zahlreiche" Spionen Veranlassung zur größten Thätigkeit gibt.

Der Adelige ist, wie der Bürger und Bauer zum Militärdienst verpflichtet, doch
ist seine Behandlung eine andere, auch ist er uicht zu dem traurigen Loose eines
gemeinen Soldaten verdammt. Gleich bei seinem Eintritte hat er die Offizier¬
würde, daher ist seine Scheu vor dem Militärdienst der des gemeinen Mannes
nicht gleich, im Gegentheil er tritt nicht selten gern in das Heer ein. Nur in
Polen scheut der Edelmann den Dienst im russischen Heere noch mehr als ein
Bauer und auf jede Weise sucht er ihm zu entgehen. Die Chefs der Conscrip-
tivuScommissiou wissen diese Schwäche trefflich auszubeuten und lassen sich die
Freilassung der jungen Edelleute oft mit Hunderte" von Ducaten bezahlen. Ihre
Empfänglichkeit für Bestechung ist aber so zuverlässig, daß vom polnischen Adel
beinahe nichts auf dem Wege der gcwöh"liebe" Conscription zum russischen Heere
gelangt, daher die verwunderte Aeußerung des Kaisers Nikolaus, als er eine einge¬
sendete Uebersicht der polnischen Rekrutirung gelesen hatte: "ich begreife uicht,
in Polen muß es gar keinen Adel mehr gebe"!"

Auch ist es den Polen nicht mehr vergönnt, ihre Militärpflicht im König¬
reiche zu erfüllen; in Grusien, Kankasie" und den innern Gnbernien, welche von
der Wolga durchströmt werde", haben sie ihre" Waffendienst z" leisten. Zwar
hat die Ncgienmg in einer Art von Menschenfreundlichkeit eine Gelegenheit be¬
reitet, ihre Dienstpflicht in Polen zu erfüllen, aber diese ist so entwürdigender
Art, daß es ihnen nicht leicht ist, sie zu benutze". Ma" hat nämlich i" War-


noch in Nußland eine Seltenheit, ja in manchen Gegenden und Familien ist es
das Gewöhnliche.

Wir kehren zur Couscriptio» zurück. Nachdem die Bauern mit dem täuschen¬
den Trostworte des Oberstlieutenants nach Hause gewiesen und die Liste der Con-
seribirten für den Herrn Chef duplirt, auch die nothgedrnngene Gastfreundschaft
des Grafen bei einem langen Mahle tüchtig in Anspruch genommen worden ist,
begibt sich die Commission nach der Oberortschaftsstadt zurück.

Fast sechs Monate später, im October, tritt die Recrutirung ein.

Es herrscht zur Zeit der Recrutirung eine tiefe, allgemeine Herzensempö¬
rung, welche i» Mienen, Geberden, Gruppen sichtbar wird. Man steht lauernd
an den Straßenecken, um die gefangenen Militärpflichtiger vvrübcrtreiben zu se¬
hen, man sammelt sich in den Kaffeehäusern der Straßen, 'welche zu dein Com-
missariate und der Citadelle führen, und erzählt sich die Gewaltthaten, welche von
den russischen Patrouillen hier oder dort ausgeübt worden siud, man eilt, den oder
jenen Militärpflichtiger noch zu warnen, und man sucht Gelegenheit, Entweich»»-
gen zu veranstalten und zu »»terstützen. Allenthalben thut sich eine stille Verzweif-
lung kund, die alle Kräfte gegen die Ausübung des Gesetzes auspaunt und de»
zahlreiche» Spionen Veranlassung zur größten Thätigkeit gibt.

Der Adelige ist, wie der Bürger und Bauer zum Militärdienst verpflichtet, doch
ist seine Behandlung eine andere, auch ist er uicht zu dem traurigen Loose eines
gemeinen Soldaten verdammt. Gleich bei seinem Eintritte hat er die Offizier¬
würde, daher ist seine Scheu vor dem Militärdienst der des gemeinen Mannes
nicht gleich, im Gegentheil er tritt nicht selten gern in das Heer ein. Nur in
Polen scheut der Edelmann den Dienst im russischen Heere noch mehr als ein
Bauer und auf jede Weise sucht er ihm zu entgehen. Die Chefs der Conscrip-
tivuScommissiou wissen diese Schwäche trefflich auszubeuten und lassen sich die
Freilassung der jungen Edelleute oft mit Hunderte» von Ducaten bezahlen. Ihre
Empfänglichkeit für Bestechung ist aber so zuverlässig, daß vom polnischen Adel
beinahe nichts auf dem Wege der gcwöh»liebe» Conscription zum russischen Heere
gelangt, daher die verwunderte Aeußerung des Kaisers Nikolaus, als er eine einge¬
sendete Uebersicht der polnischen Rekrutirung gelesen hatte: „ich begreife uicht,
in Polen muß es gar keinen Adel mehr gebe»!"

Auch ist es den Polen nicht mehr vergönnt, ihre Militärpflicht im König¬
reiche zu erfüllen; in Grusien, Kankasie» und den innern Gnbernien, welche von
der Wolga durchströmt werde», haben sie ihre» Waffendienst z» leisten. Zwar
hat die Ncgienmg in einer Art von Menschenfreundlichkeit eine Gelegenheit be¬
reitet, ihre Dienstpflicht in Polen zu erfüllen, aber diese ist so entwürdigender
Art, daß es ihnen nicht leicht ist, sie zu benutze». Ma» hat nämlich i» War-


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[0275] noch in Nußland eine Seltenheit, ja in manchen Gegenden und Familien ist es das Gewöhnliche. Wir kehren zur Couscriptio» zurück. Nachdem die Bauern mit dem täuschen¬ den Trostworte des Oberstlieutenants nach Hause gewiesen und die Liste der Con- seribirten für den Herrn Chef duplirt, auch die nothgedrnngene Gastfreundschaft des Grafen bei einem langen Mahle tüchtig in Anspruch genommen worden ist, begibt sich die Commission nach der Oberortschaftsstadt zurück. Fast sechs Monate später, im October, tritt die Recrutirung ein. Es herrscht zur Zeit der Recrutirung eine tiefe, allgemeine Herzensempö¬ rung, welche i» Mienen, Geberden, Gruppen sichtbar wird. Man steht lauernd an den Straßenecken, um die gefangenen Militärpflichtiger vvrübcrtreiben zu se¬ hen, man sammelt sich in den Kaffeehäusern der Straßen, 'welche zu dein Com- missariate und der Citadelle führen, und erzählt sich die Gewaltthaten, welche von den russischen Patrouillen hier oder dort ausgeübt worden siud, man eilt, den oder jenen Militärpflichtiger noch zu warnen, und man sucht Gelegenheit, Entweich»»- gen zu veranstalten und zu »»terstützen. Allenthalben thut sich eine stille Verzweif- lung kund, die alle Kräfte gegen die Ausübung des Gesetzes auspaunt und de» zahlreiche» Spionen Veranlassung zur größten Thätigkeit gibt. Der Adelige ist, wie der Bürger und Bauer zum Militärdienst verpflichtet, doch ist seine Behandlung eine andere, auch ist er uicht zu dem traurigen Loose eines gemeinen Soldaten verdammt. Gleich bei seinem Eintritte hat er die Offizier¬ würde, daher ist seine Scheu vor dem Militärdienst der des gemeinen Mannes nicht gleich, im Gegentheil er tritt nicht selten gern in das Heer ein. Nur in Polen scheut der Edelmann den Dienst im russischen Heere noch mehr als ein Bauer und auf jede Weise sucht er ihm zu entgehen. Die Chefs der Conscrip- tivuScommissiou wissen diese Schwäche trefflich auszubeuten und lassen sich die Freilassung der jungen Edelleute oft mit Hunderte» von Ducaten bezahlen. Ihre Empfänglichkeit für Bestechung ist aber so zuverlässig, daß vom polnischen Adel beinahe nichts auf dem Wege der gcwöh»liebe» Conscription zum russischen Heere gelangt, daher die verwunderte Aeußerung des Kaisers Nikolaus, als er eine einge¬ sendete Uebersicht der polnischen Rekrutirung gelesen hatte: „ich begreife uicht, in Polen muß es gar keinen Adel mehr gebe»!" Auch ist es den Polen nicht mehr vergönnt, ihre Militärpflicht im König¬ reiche zu erfüllen; in Grusien, Kankasie» und den innern Gnbernien, welche von der Wolga durchströmt werde», haben sie ihre» Waffendienst z» leisten. Zwar hat die Ncgienmg in einer Art von Menschenfreundlichkeit eine Gelegenheit be¬ reitet, ihre Dienstpflicht in Polen zu erfüllen, aber diese ist so entwürdigender Art, daß es ihnen nicht leicht ist, sie zu benutze». Ma» hat nämlich i» War-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279547/275>, abgerufen am 15.01.2025.