Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band.liebe Gefühl des Ideals und das Bewußtsein seiner Nichtigkeit in sich zu tragen. So würde ich auch im Werther den charakteristischen Zug uicht in seiner liebe Gefühl des Ideals und das Bewußtsein seiner Nichtigkeit in sich zu tragen. So würde ich auch im Werther den charakteristischen Zug uicht in seiner <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0259" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/279807"/> <p xml:id="ID_905" prev="#ID_904"> liebe Gefühl des Ideals und das Bewußtsein seiner Nichtigkeit in sich zu tragen.<lb/> So ist die Frivolität, die mit einer gewissen Bosheit ausgeübt wird, nichts als<lb/> ein Ausfluß ungesunder, und daher betrogener Sentimentalität, und Schriftsteller,<lb/> wie Heine, bei denen das eine fortwährend mit dem andern wechselt, sind ein<lb/> ebenso natürliches als widerliches Zeugniß für die Wahrheit, daß unbedingte<lb/> Bejahung (Schwärmerei) nothwendig die unbedingte Berneinung mit sich führt,<lb/> wie das Licht den Schatten. Die kritische Kälte, welche der schöpferischen Gluth<lb/> eine Form zu geben bestimmt war, macht sich daun nachträglich in einem unfrucht¬<lb/> baren Sprühregen geltend: vis ciwsilii ex^vrs mole init su». Schwärmerei und<lb/> Sentimentalität sind immer ein Zeichen vou mangelnder Gestaltungskraft, daher die<lb/> vielen verkannten Genies, die Jonnes incomnns und die incommensnrMen Fau-<lb/> stineu, Lelias, Heloisen, Wally's, die nie die Kraft haben, etwas bestimmtes zu<lb/> wollen, etwas bestimmtes zu denken, selbst etwas bestimmtes zu fühlen, und die<lb/> sich daher in den breiten Strom unbestimmter Phantasien verliere». Die Jnten-<lb/> sivität ihrer Empfindung ist nur scheinbar, weil sie eigentlich immer nur Komödie<lb/> spielt; ihre vermeintliche Kraft liegt nur in dem Mangel an Widerstand, in dem<lb/> wissentlichen oder naiven Jgnoriren aller Schranken. Ihre Ideale entspringen nicht<lb/> aus der Kraft der Liebe, sondern aus dem Gefühl der Schwäche, und aus dem<lb/> Haß des Vollkommenen; sie glauben nur darum an Gott — d. h. an die Auflö¬<lb/> sung aller Widersprüche — um ihn in der Welt nicht zu finden und nach Her¬<lb/> zenslust blaSphemiren zu können. Diese Komödianten haben eine wahre Wuth,<lb/> Briefe zu schreiben, und darin sich und Andere zu quälen, und die Romane, die<lb/> von ihnen und über sie geschrieben werden, haben in der Regel die Form einer<lb/> Korrespondenz oder noch besser eines Tagebuchs; denn eS handelt sich hier nicht<lb/> um Erlebnisse, sondern um Phantasten und Meinungen. Als abschreckendes Bei¬<lb/> spiel führe ich die Neue Heloise von I. I. Rousseau an, wo mit dem Schreck¬<lb/> gespenst der Tugend, dem kalten Pflichtgebot, so lange sentimental getändelt<lb/> wird, bis in der Wirklichkeit der Cynismus selbst über die herkömmliche Grenze<lb/> hinausgeht. Formte Religiosität — was wir Pietismus nennen — findet sich am<lb/> meisten in einer sehr materialistischen Zeit, das Raffinement des Genusses gibt der<lb/> raffinirten Geistigkeit den Reiz des Contrastes, und wer es am ausgesuchtesten<lb/> treiben will, wird mit religiösen und sinnlichen Phantasien abwechseln, wie Lelia,<lb/> Faustine, wie Faust vor Allem. Eigentlich liegt in diesem Phantasieleben viel<lb/> Faulheit; Faulheit fürs Denken wie für den Entschluß.</p><lb/> <p xml:id="ID_906" next="#ID_907"> So würde ich auch im Werther den charakteristischen Zug uicht in seiner<lb/> vermeintlichen Leidenschaft suchen, die mir gar uicht so iuteustv vorkommt, als in<lb/> seiner Trägheit. Er nimmt sich das Leben, weil er damit nichts anzufangen weiß.<lb/> Er hat ein gutes Herz, welches natürlich empfindet, und daher von allem Un¬<lb/> wahren verletzt wird. Da er aber nicht die Kraft besitzt, sich eine seinen Empfin¬<lb/> dungen entsprechende Wirklichkeit zu bereiten, indem er das eine an dem andern</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0259]
liebe Gefühl des Ideals und das Bewußtsein seiner Nichtigkeit in sich zu tragen.
So ist die Frivolität, die mit einer gewissen Bosheit ausgeübt wird, nichts als
ein Ausfluß ungesunder, und daher betrogener Sentimentalität, und Schriftsteller,
wie Heine, bei denen das eine fortwährend mit dem andern wechselt, sind ein
ebenso natürliches als widerliches Zeugniß für die Wahrheit, daß unbedingte
Bejahung (Schwärmerei) nothwendig die unbedingte Berneinung mit sich führt,
wie das Licht den Schatten. Die kritische Kälte, welche der schöpferischen Gluth
eine Form zu geben bestimmt war, macht sich daun nachträglich in einem unfrucht¬
baren Sprühregen geltend: vis ciwsilii ex^vrs mole init su». Schwärmerei und
Sentimentalität sind immer ein Zeichen vou mangelnder Gestaltungskraft, daher die
vielen verkannten Genies, die Jonnes incomnns und die incommensnrMen Fau-
stineu, Lelias, Heloisen, Wally's, die nie die Kraft haben, etwas bestimmtes zu
wollen, etwas bestimmtes zu denken, selbst etwas bestimmtes zu fühlen, und die
sich daher in den breiten Strom unbestimmter Phantasien verliere». Die Jnten-
sivität ihrer Empfindung ist nur scheinbar, weil sie eigentlich immer nur Komödie
spielt; ihre vermeintliche Kraft liegt nur in dem Mangel an Widerstand, in dem
wissentlichen oder naiven Jgnoriren aller Schranken. Ihre Ideale entspringen nicht
aus der Kraft der Liebe, sondern aus dem Gefühl der Schwäche, und aus dem
Haß des Vollkommenen; sie glauben nur darum an Gott — d. h. an die Auflö¬
sung aller Widersprüche — um ihn in der Welt nicht zu finden und nach Her¬
zenslust blaSphemiren zu können. Diese Komödianten haben eine wahre Wuth,
Briefe zu schreiben, und darin sich und Andere zu quälen, und die Romane, die
von ihnen und über sie geschrieben werden, haben in der Regel die Form einer
Korrespondenz oder noch besser eines Tagebuchs; denn eS handelt sich hier nicht
um Erlebnisse, sondern um Phantasten und Meinungen. Als abschreckendes Bei¬
spiel führe ich die Neue Heloise von I. I. Rousseau an, wo mit dem Schreck¬
gespenst der Tugend, dem kalten Pflichtgebot, so lange sentimental getändelt
wird, bis in der Wirklichkeit der Cynismus selbst über die herkömmliche Grenze
hinausgeht. Formte Religiosität — was wir Pietismus nennen — findet sich am
meisten in einer sehr materialistischen Zeit, das Raffinement des Genusses gibt der
raffinirten Geistigkeit den Reiz des Contrastes, und wer es am ausgesuchtesten
treiben will, wird mit religiösen und sinnlichen Phantasien abwechseln, wie Lelia,
Faustine, wie Faust vor Allem. Eigentlich liegt in diesem Phantasieleben viel
Faulheit; Faulheit fürs Denken wie für den Entschluß.
So würde ich auch im Werther den charakteristischen Zug uicht in seiner
vermeintlichen Leidenschaft suchen, die mir gar uicht so iuteustv vorkommt, als in
seiner Trägheit. Er nimmt sich das Leben, weil er damit nichts anzufangen weiß.
Er hat ein gutes Herz, welches natürlich empfindet, und daher von allem Un¬
wahren verletzt wird. Da er aber nicht die Kraft besitzt, sich eine seinen Empfin¬
dungen entsprechende Wirklichkeit zu bereiten, indem er das eine an dem andern
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