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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band.

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idealisirt, und die Situation zieht sich in den engsten Kreis des Burlesken, in den
handgreiflichen Schwank zusammen. Der gefoppte Pedant, der Dvttore, stellt in
der Regel den Vormund der Kolombine vor; der glückliche Liebhaber, Arlechin,
ist zugleich der verschmitzte, behende Sklav; die tölpelhafte Seite des letzteren
kommt im Pierrot zur Erscheinung u. s. w. Es ist das leichte, lockere Leben, wie
es in Italien immer zu Hause war, so lauge es der Ernst des römischen Staats¬
wesens uicht niederdrückte. Die phantastischen Figuren, Türken, Chinesen, die
Götter der Mythologie, Pluto, Cerberus, oder komische Professionen, der Arzt
u. s. ,w., dienten nur als Staffage. In dem italienischen Ballet, wie es Moliore
zu Paris vorfand, hat man diese ganze Reihe lustiger Figuren in buntester Fülle
beisammen. Beaumarchais' Barbier von Sevilla ist das alte Fastnachtspiel: der
Dottore, Rosine als Kolombine, Basil der Pierrot, aber der Arlechin hat im
Figaro eine sehr bestimmte, concret-historische Gestalt angenommen und sich zu
einer Charaktermaske in unserm Sinn erweitert.

Ist in den italienischen Masken die ethische Ausbeute sehr dürftig, da der
Spaß sich lediglich auf die allergröbsten Verwickelungen beschränkt, und da bei
dem Mangel einer festen politischen Grundlage im modernen Italien, ohne die
sich ein sittliches Wesen nicht denken läßt, alle Gestalten sich in stoffloser Ironie
verflüchtigen, so ist die Lust an diesen Gliederpuppen doch immer berechtigt, weil
die Figuren naiv gehalten sind. In der spanische" ("nmeili.i, alö <:mal )' vspild.'l
dagegen finden wir dieselben Typen, aber auf Stelzen. Die Charaktermasken des
Calderon'schen Lustspiels sind Mosaikarbeiten der Reflexion. Die Kavaliere sind
zusammengeflickte Phrasen ans dem Katechismus romantischer Ehre, die Graciosos
die abstrakten Harlekine ohne irgend eine ursprüngliche Laune. Die verschrobene
Convenienz jener spanischen Hidalgos wäre der vortrefflichste Gegenstand für ein
Lustspiel, aber die Dichter sind vollständig befangen in dem Netz dieser eingebil¬
deten sittlichen Bestimmungen, ihre Aufgabe ist lediglich ein Rechenexempel des
combinirenden Verstandes. Wenn man von der Geschicklichkeit dieser Combination
absieht, so muß man Lope und Calderon um so tiefer stellen, da ihnen Cervantes
vorausgegangen war, und jene beiden Figuren im Don Quixote und im Sancho
mit dem köstlichste" Humor idealisirt hatte, die nachher wieder in der alten, fest-
gemordnen Sittlichkeit erstarrten.

Im englischen Theater ist es gerade umgekehrt. Der Faden der Handlung
ist stets so lose als möglich, die Verwickelung ungeschickt, die Anlage des Ganzen
auch bei den besten Dichtern von einer wahrhaft primitiven Rohheit. Aber vom
ersten Anfang an bis auf unse,e Tage, von Shakespeare bis auf Dickens und Thacke-
ray -- denn auf die Form, ob Roman oder Theaterstück, kommt es in England
nicht viel an -- welche Fülle concreter, lebendiger, mit sicherer Hand gemeißelter
Gestatte"! Die "lustigen Weiber von Windsor" sind gewiß ein schlechtes Stück,
aber wer Sinn sür Poesie hat, wird doch ein größeres Interesse daran nehmen,


idealisirt, und die Situation zieht sich in den engsten Kreis des Burlesken, in den
handgreiflichen Schwank zusammen. Der gefoppte Pedant, der Dvttore, stellt in
der Regel den Vormund der Kolombine vor; der glückliche Liebhaber, Arlechin,
ist zugleich der verschmitzte, behende Sklav; die tölpelhafte Seite des letzteren
kommt im Pierrot zur Erscheinung u. s. w. Es ist das leichte, lockere Leben, wie
es in Italien immer zu Hause war, so lauge es der Ernst des römischen Staats¬
wesens uicht niederdrückte. Die phantastischen Figuren, Türken, Chinesen, die
Götter der Mythologie, Pluto, Cerberus, oder komische Professionen, der Arzt
u. s. ,w., dienten nur als Staffage. In dem italienischen Ballet, wie es Moliore
zu Paris vorfand, hat man diese ganze Reihe lustiger Figuren in buntester Fülle
beisammen. Beaumarchais' Barbier von Sevilla ist das alte Fastnachtspiel: der
Dottore, Rosine als Kolombine, Basil der Pierrot, aber der Arlechin hat im
Figaro eine sehr bestimmte, concret-historische Gestalt angenommen und sich zu
einer Charaktermaske in unserm Sinn erweitert.

Ist in den italienischen Masken die ethische Ausbeute sehr dürftig, da der
Spaß sich lediglich auf die allergröbsten Verwickelungen beschränkt, und da bei
dem Mangel einer festen politischen Grundlage im modernen Italien, ohne die
sich ein sittliches Wesen nicht denken läßt, alle Gestalten sich in stoffloser Ironie
verflüchtigen, so ist die Lust an diesen Gliederpuppen doch immer berechtigt, weil
die Figuren naiv gehalten sind. In der spanische» ("nmeili.i, alö <:mal )' vspild.'l
dagegen finden wir dieselben Typen, aber auf Stelzen. Die Charaktermasken des
Calderon'schen Lustspiels sind Mosaikarbeiten der Reflexion. Die Kavaliere sind
zusammengeflickte Phrasen ans dem Katechismus romantischer Ehre, die Graciosos
die abstrakten Harlekine ohne irgend eine ursprüngliche Laune. Die verschrobene
Convenienz jener spanischen Hidalgos wäre der vortrefflichste Gegenstand für ein
Lustspiel, aber die Dichter sind vollständig befangen in dem Netz dieser eingebil¬
deten sittlichen Bestimmungen, ihre Aufgabe ist lediglich ein Rechenexempel des
combinirenden Verstandes. Wenn man von der Geschicklichkeit dieser Combination
absieht, so muß man Lope und Calderon um so tiefer stellen, da ihnen Cervantes
vorausgegangen war, und jene beiden Figuren im Don Quixote und im Sancho
mit dem köstlichste» Humor idealisirt hatte, die nachher wieder in der alten, fest-
gemordnen Sittlichkeit erstarrten.

Im englischen Theater ist es gerade umgekehrt. Der Faden der Handlung
ist stets so lose als möglich, die Verwickelung ungeschickt, die Anlage des Ganzen
auch bei den besten Dichtern von einer wahrhaft primitiven Rohheit. Aber vom
ersten Anfang an bis auf unse,e Tage, von Shakespeare bis auf Dickens und Thacke-
ray — denn auf die Form, ob Roman oder Theaterstück, kommt es in England
nicht viel an — welche Fülle concreter, lebendiger, mit sicherer Hand gemeißelter
Gestatte»! Die „lustigen Weiber von Windsor" sind gewiß ein schlechtes Stück,
aber wer Sinn sür Poesie hat, wird doch ein größeres Interesse daran nehmen,


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[0248] idealisirt, und die Situation zieht sich in den engsten Kreis des Burlesken, in den handgreiflichen Schwank zusammen. Der gefoppte Pedant, der Dvttore, stellt in der Regel den Vormund der Kolombine vor; der glückliche Liebhaber, Arlechin, ist zugleich der verschmitzte, behende Sklav; die tölpelhafte Seite des letzteren kommt im Pierrot zur Erscheinung u. s. w. Es ist das leichte, lockere Leben, wie es in Italien immer zu Hause war, so lauge es der Ernst des römischen Staats¬ wesens uicht niederdrückte. Die phantastischen Figuren, Türken, Chinesen, die Götter der Mythologie, Pluto, Cerberus, oder komische Professionen, der Arzt u. s. ,w., dienten nur als Staffage. In dem italienischen Ballet, wie es Moliore zu Paris vorfand, hat man diese ganze Reihe lustiger Figuren in buntester Fülle beisammen. Beaumarchais' Barbier von Sevilla ist das alte Fastnachtspiel: der Dottore, Rosine als Kolombine, Basil der Pierrot, aber der Arlechin hat im Figaro eine sehr bestimmte, concret-historische Gestalt angenommen und sich zu einer Charaktermaske in unserm Sinn erweitert. Ist in den italienischen Masken die ethische Ausbeute sehr dürftig, da der Spaß sich lediglich auf die allergröbsten Verwickelungen beschränkt, und da bei dem Mangel einer festen politischen Grundlage im modernen Italien, ohne die sich ein sittliches Wesen nicht denken läßt, alle Gestalten sich in stoffloser Ironie verflüchtigen, so ist die Lust an diesen Gliederpuppen doch immer berechtigt, weil die Figuren naiv gehalten sind. In der spanische» ("nmeili.i, alö <:mal )' vspild.'l dagegen finden wir dieselben Typen, aber auf Stelzen. Die Charaktermasken des Calderon'schen Lustspiels sind Mosaikarbeiten der Reflexion. Die Kavaliere sind zusammengeflickte Phrasen ans dem Katechismus romantischer Ehre, die Graciosos die abstrakten Harlekine ohne irgend eine ursprüngliche Laune. Die verschrobene Convenienz jener spanischen Hidalgos wäre der vortrefflichste Gegenstand für ein Lustspiel, aber die Dichter sind vollständig befangen in dem Netz dieser eingebil¬ deten sittlichen Bestimmungen, ihre Aufgabe ist lediglich ein Rechenexempel des combinirenden Verstandes. Wenn man von der Geschicklichkeit dieser Combination absieht, so muß man Lope und Calderon um so tiefer stellen, da ihnen Cervantes vorausgegangen war, und jene beiden Figuren im Don Quixote und im Sancho mit dem köstlichste» Humor idealisirt hatte, die nachher wieder in der alten, fest- gemordnen Sittlichkeit erstarrten. Im englischen Theater ist es gerade umgekehrt. Der Faden der Handlung ist stets so lose als möglich, die Verwickelung ungeschickt, die Anlage des Ganzen auch bei den besten Dichtern von einer wahrhaft primitiven Rohheit. Aber vom ersten Anfang an bis auf unse,e Tage, von Shakespeare bis auf Dickens und Thacke- ray — denn auf die Form, ob Roman oder Theaterstück, kommt es in England nicht viel an — welche Fülle concreter, lebendiger, mit sicherer Hand gemeißelter Gestatte»! Die „lustigen Weiber von Windsor" sind gewiß ein schlechtes Stück, aber wer Sinn sür Poesie hat, wird doch ein größeres Interesse daran nehmen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279547/248>, abgerufen am 15.01.2025.