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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band.

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Bei dem Studium der Kunstgeschichte liegt für mich der größte Reiz nicht in
der letzten Vollendung, sondern in der Energie, mit welcher die Kunst den irratio¬
neller Inhalt, den ihr das Leben bietet, zu ihren Zwecken verarbeitet, in den ethi¬
schen Problemen, die sie zu überwinde" strebt. Die sittlichen Ideale, den ei¬
gentlichen Gehalt einer großen Zeit zu erforschen, ist das Studium der Poesie,
vornehmlich der dramatischen, wenn nicht der sicherste, doch der anmuthigste Weg.

Das sittliche Problem versinnlicht die Poesie entweder in einer That, - wo
es als werdend erscheint, oder in einem Zustand -- wo eS in dem fertigen Re¬
sultat gebunden ist. Im Ganzen und Großen genommen, ist dies der wesent¬
liche Unterschied zwischen Tragödie und Komödie.

Ich meine das so. Die Tragödie stellt die Leidenschaft zugleich als das Recht,
als die Schuld und als das Schicksal des Helden dar. Nur wo diese drei schein¬
bar widersprechenden Bestimmungen sich identificiren, ist von einer dramatischen
Kunst im höheren Styl die Rede. Es ist daher ebenso verfehlt, den tragischen
Helden an dem Gewebe äußerlicher Zufälligkeiten untergehen zu lassen -- an dem,
was man "Verhältnisse," Sitte, Convenienz u. f. w, nennt, als an der inneren
Zufälligkeit, der Bestimmtheit dnrch Vorurtheile, Wünsche, Meinungen u. f. w.,
die lediglich in der Zeit liegen. Der tragische Eindruck ist nur in dem Falle rein,
wenn wir ebenso die innere Nothwendigkeit der Leidenschaft, als die innere Noth¬
wendigkeit des Schicksals fühle" und erkennen, wenn wir die Hand des Gottes
verehren müssen, indem sein Schlag uns erschüttert; und wenn die Leiden¬
schaft, indem wir sie verdammen, sich dennoch in uns selbst reproducirt. Eine sel¬
lschaft, die aus der Willkür, ein Schicksal, das ans dem Zufall entspringt, kann
uns nur so lange tragisch erschüttern, als wir selbst über den sittlichen Horizont,
der den Poeten befangen hielt, nicht hinaus sehen. Als der Vergänglichkeit me-
s°gen, empfinden wir nur diejenige tragische Kunst, die das ewig Menschliche darstellt.

Ein Beispiel. Die Tragödie des Faust erschüttert uns nur so lange, als wir seine
Leidenschaft für berechtigt halten. Sobald wir seine Wünsche -- Alles zu wissen, Alles
genieße", trotz der Endlichkeit der Person -- in ihrer Widersinnigkeit begreifen,


Hrenzvoten. lo. 1849. 31
Moderne Charaktermasken.



Bei dem Studium der Kunstgeschichte liegt für mich der größte Reiz nicht in
der letzten Vollendung, sondern in der Energie, mit welcher die Kunst den irratio¬
neller Inhalt, den ihr das Leben bietet, zu ihren Zwecken verarbeitet, in den ethi¬
schen Problemen, die sie zu überwinde» strebt. Die sittlichen Ideale, den ei¬
gentlichen Gehalt einer großen Zeit zu erforschen, ist das Studium der Poesie,
vornehmlich der dramatischen, wenn nicht der sicherste, doch der anmuthigste Weg.

Das sittliche Problem versinnlicht die Poesie entweder in einer That, - wo
es als werdend erscheint, oder in einem Zustand — wo eS in dem fertigen Re¬
sultat gebunden ist. Im Ganzen und Großen genommen, ist dies der wesent¬
liche Unterschied zwischen Tragödie und Komödie.

Ich meine das so. Die Tragödie stellt die Leidenschaft zugleich als das Recht,
als die Schuld und als das Schicksal des Helden dar. Nur wo diese drei schein¬
bar widersprechenden Bestimmungen sich identificiren, ist von einer dramatischen
Kunst im höheren Styl die Rede. Es ist daher ebenso verfehlt, den tragischen
Helden an dem Gewebe äußerlicher Zufälligkeiten untergehen zu lassen — an dem,
was man „Verhältnisse," Sitte, Convenienz u. f. w, nennt, als an der inneren
Zufälligkeit, der Bestimmtheit dnrch Vorurtheile, Wünsche, Meinungen u. f. w.,
die lediglich in der Zeit liegen. Der tragische Eindruck ist nur in dem Falle rein,
wenn wir ebenso die innere Nothwendigkeit der Leidenschaft, als die innere Noth¬
wendigkeit des Schicksals fühle» und erkennen, wenn wir die Hand des Gottes
verehren müssen, indem sein Schlag uns erschüttert; und wenn die Leiden¬
schaft, indem wir sie verdammen, sich dennoch in uns selbst reproducirt. Eine sel¬
lschaft, die aus der Willkür, ein Schicksal, das ans dem Zufall entspringt, kann
uns nur so lange tragisch erschüttern, als wir selbst über den sittlichen Horizont,
der den Poeten befangen hielt, nicht hinaus sehen. Als der Vergänglichkeit me-
s°gen, empfinden wir nur diejenige tragische Kunst, die das ewig Menschliche darstellt.

Ein Beispiel. Die Tragödie des Faust erschüttert uns nur so lange, als wir seine
Leidenschaft für berechtigt halten. Sobald wir seine Wünsche — Alles zu wissen, Alles
genieße«, trotz der Endlichkeit der Person — in ihrer Widersinnigkeit begreifen,


Hrenzvoten. lo. 1849. 31
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[0245] Moderne Charaktermasken. Bei dem Studium der Kunstgeschichte liegt für mich der größte Reiz nicht in der letzten Vollendung, sondern in der Energie, mit welcher die Kunst den irratio¬ neller Inhalt, den ihr das Leben bietet, zu ihren Zwecken verarbeitet, in den ethi¬ schen Problemen, die sie zu überwinde» strebt. Die sittlichen Ideale, den ei¬ gentlichen Gehalt einer großen Zeit zu erforschen, ist das Studium der Poesie, vornehmlich der dramatischen, wenn nicht der sicherste, doch der anmuthigste Weg. Das sittliche Problem versinnlicht die Poesie entweder in einer That, - wo es als werdend erscheint, oder in einem Zustand — wo eS in dem fertigen Re¬ sultat gebunden ist. Im Ganzen und Großen genommen, ist dies der wesent¬ liche Unterschied zwischen Tragödie und Komödie. Ich meine das so. Die Tragödie stellt die Leidenschaft zugleich als das Recht, als die Schuld und als das Schicksal des Helden dar. Nur wo diese drei schein¬ bar widersprechenden Bestimmungen sich identificiren, ist von einer dramatischen Kunst im höheren Styl die Rede. Es ist daher ebenso verfehlt, den tragischen Helden an dem Gewebe äußerlicher Zufälligkeiten untergehen zu lassen — an dem, was man „Verhältnisse," Sitte, Convenienz u. f. w, nennt, als an der inneren Zufälligkeit, der Bestimmtheit dnrch Vorurtheile, Wünsche, Meinungen u. f. w., die lediglich in der Zeit liegen. Der tragische Eindruck ist nur in dem Falle rein, wenn wir ebenso die innere Nothwendigkeit der Leidenschaft, als die innere Noth¬ wendigkeit des Schicksals fühle» und erkennen, wenn wir die Hand des Gottes verehren müssen, indem sein Schlag uns erschüttert; und wenn die Leiden¬ schaft, indem wir sie verdammen, sich dennoch in uns selbst reproducirt. Eine sel¬ lschaft, die aus der Willkür, ein Schicksal, das ans dem Zufall entspringt, kann uns nur so lange tragisch erschüttern, als wir selbst über den sittlichen Horizont, der den Poeten befangen hielt, nicht hinaus sehen. Als der Vergänglichkeit me- s°gen, empfinden wir nur diejenige tragische Kunst, die das ewig Menschliche darstellt. Ein Beispiel. Die Tragödie des Faust erschüttert uns nur so lange, als wir seine Leidenschaft für berechtigt halten. Sobald wir seine Wünsche — Alles zu wissen, Alles genieße«, trotz der Endlichkeit der Person — in ihrer Widersinnigkeit begreifen, Hrenzvoten. lo. 1849. 31

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279547/245>, abgerufen am 15.01.2025.