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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band.

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des Volkslebens heilen. -- Daher sehen wir, daß der Glaubensvolle, sobald er
zur Verwirklichung seiner Ueberzeugung zu schreiten vermeint, gewöhnlich vielmehr
darauf ausgeht, Andere, bisher Gleichgiltige zu einer Beistimmungserklärung zu
vermögen, oder die entgegengesetzt Denkenden zu Stillschweigen und Unterwürfig¬
keit zu nöthigen. Schon dies findet nun, der Natur der Sache nach, nothwendig
Widerstand, da bei jedem einzelnen Menschen die Lücken des Wissens, und also
die Sphären des Glaubens andere sind. Beides aber, das Gefühl der Unerreich-
barkeit und das Gefühl des vorhandenen Widerstandes, steigert bei der einseitig ge¬
wordenen Glaubensthätigkeit die Erregung des Gemüthes, welches sich die Durch-
setzbarkeit seiner Wünsche in demselben Matze lebhafter vorspiegelt. So tritt zur
Einseitigkeit die Erbitterung, die Heftigkeit und Hartnäckigkeit des Wollens, und
der Fanatismus nimmt seine entschieden krankhafte Färbung an.

Wir haben uns hier über den Begriff "Krankheit" zu verständigen.
Schon Hegel nannte die Krankheit eine sich einseitig losreißende (gleichsam auf
Kosten des Organismus emancipirende) Function. Diese Begriffsbestimmung hat,
obschon für materiellere Krankheiten mangelhaft, für die hier in Rede stehenden
psychischen Abnormitäten allerdings viel Richtiges. Krankheiten nennt man alle
jene Abnormitäten des Organismus, welche dem gesunden Leben gegenüber eine
größere Selbstständigkeit in ihrer schädlichen Wirkung ausüben, welche den physi¬
ologischen, zur Erhaltung des Individuums und der Gattung dienenden Einrich¬
tungen und Vorgängen wesentlich widerstreben. So liegen allerdings zwischen
Gesund- und Kranksein viele Mittelstufen, welche man z. B. als Unpäßlichkeiten,
Mißgestaltungen, als Krankheiten der Gesunden bezeichnet hat. Namentlich haben
die Aerzte sich daran gewöhnt, nur solche Zustände, welche ein ärztliches Ein¬
schreiten erfordern, als Krankheiten anzusehen. Doch hat die neuere Zeit hierin
Manches geändert. Man hat aus dem Wege der Wissenschaft (insbesondere auf
dem der pathologischen Anatomie) Krankheitszustände entdeckt, welche bisher nicht
als solche anerkannt waren. Und andererseits hat man auch unter den abnormen
Seelenzuständen manche als Krankheiten würdigen gelernt, welche noch lange nicht
zur Unterbringung im Irrenhause berechtigen: z. B. die Sinnestäuschungen, die
Trunksucht, die Zoruwüthigkeit, den Somnambulismus. -- Und an diese, dem
Einschreiten des Privatarztes in der Regel auch uicht anheimfallenden Abnor¬
mitäten des Seelenlebens schließt sich allerdings der ausgebildete Fanatismus an;
seine milderen Formen aber an die Krankheitsvorboten und Krankheitskeime:
also nicht minder an die Gegenstände der psychischen Pathologie.

Ein Blick aufdie Erscheinungen, die "Symptome des Fanatismus"
wird uns belehren, ob derselbe in der That jene Kennzeichen an sich trägt, welche
von der ärztlichen Wissenschaft, insbesondere von der gerichtsärztlichen Psychologie,
als Charaktere eines geistigkranken, sogenannten unfreien Seelenzustan¬
des ausgestellt werden. Es sind folgende:


des Volkslebens heilen. — Daher sehen wir, daß der Glaubensvolle, sobald er
zur Verwirklichung seiner Ueberzeugung zu schreiten vermeint, gewöhnlich vielmehr
darauf ausgeht, Andere, bisher Gleichgiltige zu einer Beistimmungserklärung zu
vermögen, oder die entgegengesetzt Denkenden zu Stillschweigen und Unterwürfig¬
keit zu nöthigen. Schon dies findet nun, der Natur der Sache nach, nothwendig
Widerstand, da bei jedem einzelnen Menschen die Lücken des Wissens, und also
die Sphären des Glaubens andere sind. Beides aber, das Gefühl der Unerreich-
barkeit und das Gefühl des vorhandenen Widerstandes, steigert bei der einseitig ge¬
wordenen Glaubensthätigkeit die Erregung des Gemüthes, welches sich die Durch-
setzbarkeit seiner Wünsche in demselben Matze lebhafter vorspiegelt. So tritt zur
Einseitigkeit die Erbitterung, die Heftigkeit und Hartnäckigkeit des Wollens, und
der Fanatismus nimmt seine entschieden krankhafte Färbung an.

Wir haben uns hier über den Begriff „Krankheit" zu verständigen.
Schon Hegel nannte die Krankheit eine sich einseitig losreißende (gleichsam auf
Kosten des Organismus emancipirende) Function. Diese Begriffsbestimmung hat,
obschon für materiellere Krankheiten mangelhaft, für die hier in Rede stehenden
psychischen Abnormitäten allerdings viel Richtiges. Krankheiten nennt man alle
jene Abnormitäten des Organismus, welche dem gesunden Leben gegenüber eine
größere Selbstständigkeit in ihrer schädlichen Wirkung ausüben, welche den physi¬
ologischen, zur Erhaltung des Individuums und der Gattung dienenden Einrich¬
tungen und Vorgängen wesentlich widerstreben. So liegen allerdings zwischen
Gesund- und Kranksein viele Mittelstufen, welche man z. B. als Unpäßlichkeiten,
Mißgestaltungen, als Krankheiten der Gesunden bezeichnet hat. Namentlich haben
die Aerzte sich daran gewöhnt, nur solche Zustände, welche ein ärztliches Ein¬
schreiten erfordern, als Krankheiten anzusehen. Doch hat die neuere Zeit hierin
Manches geändert. Man hat aus dem Wege der Wissenschaft (insbesondere auf
dem der pathologischen Anatomie) Krankheitszustände entdeckt, welche bisher nicht
als solche anerkannt waren. Und andererseits hat man auch unter den abnormen
Seelenzuständen manche als Krankheiten würdigen gelernt, welche noch lange nicht
zur Unterbringung im Irrenhause berechtigen: z. B. die Sinnestäuschungen, die
Trunksucht, die Zoruwüthigkeit, den Somnambulismus. — Und an diese, dem
Einschreiten des Privatarztes in der Regel auch uicht anheimfallenden Abnor¬
mitäten des Seelenlebens schließt sich allerdings der ausgebildete Fanatismus an;
seine milderen Formen aber an die Krankheitsvorboten und Krankheitskeime:
also nicht minder an die Gegenstände der psychischen Pathologie.

Ein Blick aufdie Erscheinungen, die „Symptome des Fanatismus"
wird uns belehren, ob derselbe in der That jene Kennzeichen an sich trägt, welche
von der ärztlichen Wissenschaft, insbesondere von der gerichtsärztlichen Psychologie,
als Charaktere eines geistigkranken, sogenannten unfreien Seelenzustan¬
des ausgestellt werden. Es sind folgende:


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279547/176>, abgerufen am 15.01.2025.