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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band.

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an Gründen und Thatsachen abgeht, durch eine um so stärkere Aufregung des
Gemüthes: er wird heftig. Und da dies (beim Mangel thatsächlicher Erkennt¬
nißgründe) aus die Dauer nur durch Concentration aller Seelenthätigkeit auf einen
einzelnen Punkt hin möglich ist, so wird er in seinem Sinnen und Trachten ein¬
seitig und heftig zugleich. Dies ist die fanatische Geistesrichtung.

Sobald aber bei dem Fanatiker das Streben zur Verwirklichung seiner Glau¬
bensüberzeugung wirklich zur That übergeht, tritt noch ein Umstand hinzu,
der die krankhafte Ausartung dieser Seelenstimmung vollendet.

Glaubenssätze nämlich, besonders religiöse und politische, sind ihrer Na¬
tur nach allgemeine, ohne einen bestimmten Einzelinhalt: oft ganz unrichtig
und in der Lust schwebend, oft ein Gemisch von Wahren und Falschen, oft eine
dunkle Vorausahnung eines Richtigeren als das bisher Giltige, eine dichterische,
durch Begeisterung vermittelte Inspiration.

Wahres Wissen hingegen hat seiner Natur nach immer einen speziellen
Inhalt. Denn es gibt kein anderes echtes und Stichhaltiges Wissen als dasjenige,
welches sich von unten ans ans Erfahrung aufbaut. Die Wissenschaft sammelt
die einzelnen Wahrnehmungen zu Erfahrungsregelu, erkennt in ihnen die Gesetze
des Besonderen und gewinnt aus letzteren Schritt für Schritt die allgemeineren
Wahrheiten und die leitenden oberste" Sätze. - Daher ist jede cette Erkennt¬
niß, wenn sie auch noch so sehr in allgemeinen Sätzen ausgedrückt wird, dock
stets ein Inbegriff von einzelnen Wirklickkeiten und daher auel befähigt, im Ein¬
zelnen verwirklicht zu werden. So ist z. B. das Gesetz der Schwere, der Gravi¬
tation, wie es Newton auf das gestimmte Weltall anzuwenden gelehrt hat, gewiß
ein unendlich allgemeines (allgemeiner als viele religiöse und politische Glaubens-
sätze, welche kaum auf einen Theil der Erdoberfläche passen). Aber gleickwohl
ist es dasselbe Gesetz, welches jüngst einen Astronomen befähigte, durch Berech¬
nung einer gestörten Trabantenbahn einen neuen Planeten zu entdecken, ehe er thu
gesehen hatte: dasselbe Gesetz ist in unsern Dampfwagen, unsern Perte'uhren, in
zahllosen menschlichen Einrichtungen verwirklicht und fernerhin zu verwirklichen. --
Daraus folgt schon, daß echtes Wissen auch zur Ausführung seiner Aufgabe von
selbst auf erkennbare, spezielle und sachentsprechende Mittel geführt wird; denn in
Ermangelung solcher ist es zum Handeln unbefugt und unbefähigt.

Dem Gläubigen aber fehlen diese unmittelbaren Verbindungsglieder zwischen
seinen Ueberzeugungen und seinen Handlungen mehr oder weniger, je nachdem eben
wehr oder weniger Wissensbruchstücke seinemGlauben beigemischt sind. Sehr hochschwe¬
bende allgemeine Glaubenssätze sind sogar in der Regel dnrch dieThat gar nicht zu ver¬
wirklichen, z. B. der Satz, "eS ist nur ein Gott und Mahomed ist sein Prophet. "Oder
ste sind nur zu verwirklichen unter Voraussetzung von Möglichkeiten, welche in der
Wirklichkeit nicht vorhanden sind oder gar nicht zur Sache selbst gehören: z. B.
die Sätze, daß eine soziale Republik oder eine unbeschränkte Monarchie alle Uebel


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an Gründen und Thatsachen abgeht, durch eine um so stärkere Aufregung des
Gemüthes: er wird heftig. Und da dies (beim Mangel thatsächlicher Erkennt¬
nißgründe) aus die Dauer nur durch Concentration aller Seelenthätigkeit auf einen
einzelnen Punkt hin möglich ist, so wird er in seinem Sinnen und Trachten ein¬
seitig und heftig zugleich. Dies ist die fanatische Geistesrichtung.

Sobald aber bei dem Fanatiker das Streben zur Verwirklichung seiner Glau¬
bensüberzeugung wirklich zur That übergeht, tritt noch ein Umstand hinzu,
der die krankhafte Ausartung dieser Seelenstimmung vollendet.

Glaubenssätze nämlich, besonders religiöse und politische, sind ihrer Na¬
tur nach allgemeine, ohne einen bestimmten Einzelinhalt: oft ganz unrichtig
und in der Lust schwebend, oft ein Gemisch von Wahren und Falschen, oft eine
dunkle Vorausahnung eines Richtigeren als das bisher Giltige, eine dichterische,
durch Begeisterung vermittelte Inspiration.

Wahres Wissen hingegen hat seiner Natur nach immer einen speziellen
Inhalt. Denn es gibt kein anderes echtes und Stichhaltiges Wissen als dasjenige,
welches sich von unten ans ans Erfahrung aufbaut. Die Wissenschaft sammelt
die einzelnen Wahrnehmungen zu Erfahrungsregelu, erkennt in ihnen die Gesetze
des Besonderen und gewinnt aus letzteren Schritt für Schritt die allgemeineren
Wahrheiten und die leitenden oberste» Sätze. - Daher ist jede cette Erkennt¬
niß, wenn sie auch noch so sehr in allgemeinen Sätzen ausgedrückt wird, dock
stets ein Inbegriff von einzelnen Wirklickkeiten und daher auel befähigt, im Ein¬
zelnen verwirklicht zu werden. So ist z. B. das Gesetz der Schwere, der Gravi¬
tation, wie es Newton auf das gestimmte Weltall anzuwenden gelehrt hat, gewiß
ein unendlich allgemeines (allgemeiner als viele religiöse und politische Glaubens-
sätze, welche kaum auf einen Theil der Erdoberfläche passen). Aber gleickwohl
ist es dasselbe Gesetz, welches jüngst einen Astronomen befähigte, durch Berech¬
nung einer gestörten Trabantenbahn einen neuen Planeten zu entdecken, ehe er thu
gesehen hatte: dasselbe Gesetz ist in unsern Dampfwagen, unsern Perte'uhren, in
zahllosen menschlichen Einrichtungen verwirklicht und fernerhin zu verwirklichen. —
Daraus folgt schon, daß echtes Wissen auch zur Ausführung seiner Aufgabe von
selbst auf erkennbare, spezielle und sachentsprechende Mittel geführt wird; denn in
Ermangelung solcher ist es zum Handeln unbefugt und unbefähigt.

Dem Gläubigen aber fehlen diese unmittelbaren Verbindungsglieder zwischen
seinen Ueberzeugungen und seinen Handlungen mehr oder weniger, je nachdem eben
wehr oder weniger Wissensbruchstücke seinemGlauben beigemischt sind. Sehr hochschwe¬
bende allgemeine Glaubenssätze sind sogar in der Regel dnrch dieThat gar nicht zu ver¬
wirklichen, z. B. der Satz, „eS ist nur ein Gott und Mahomed ist sein Prophet. „Oder
ste sind nur zu verwirklichen unter Voraussetzung von Möglichkeiten, welche in der
Wirklichkeit nicht vorhanden sind oder gar nicht zur Sache selbst gehören: z. B.
die Sätze, daß eine soziale Republik oder eine unbeschränkte Monarchie alle Uebel


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[0175] an Gründen und Thatsachen abgeht, durch eine um so stärkere Aufregung des Gemüthes: er wird heftig. Und da dies (beim Mangel thatsächlicher Erkennt¬ nißgründe) aus die Dauer nur durch Concentration aller Seelenthätigkeit auf einen einzelnen Punkt hin möglich ist, so wird er in seinem Sinnen und Trachten ein¬ seitig und heftig zugleich. Dies ist die fanatische Geistesrichtung. Sobald aber bei dem Fanatiker das Streben zur Verwirklichung seiner Glau¬ bensüberzeugung wirklich zur That übergeht, tritt noch ein Umstand hinzu, der die krankhafte Ausartung dieser Seelenstimmung vollendet. Glaubenssätze nämlich, besonders religiöse und politische, sind ihrer Na¬ tur nach allgemeine, ohne einen bestimmten Einzelinhalt: oft ganz unrichtig und in der Lust schwebend, oft ein Gemisch von Wahren und Falschen, oft eine dunkle Vorausahnung eines Richtigeren als das bisher Giltige, eine dichterische, durch Begeisterung vermittelte Inspiration. Wahres Wissen hingegen hat seiner Natur nach immer einen speziellen Inhalt. Denn es gibt kein anderes echtes und Stichhaltiges Wissen als dasjenige, welches sich von unten ans ans Erfahrung aufbaut. Die Wissenschaft sammelt die einzelnen Wahrnehmungen zu Erfahrungsregelu, erkennt in ihnen die Gesetze des Besonderen und gewinnt aus letzteren Schritt für Schritt die allgemeineren Wahrheiten und die leitenden oberste» Sätze. - Daher ist jede cette Erkennt¬ niß, wenn sie auch noch so sehr in allgemeinen Sätzen ausgedrückt wird, dock stets ein Inbegriff von einzelnen Wirklickkeiten und daher auel befähigt, im Ein¬ zelnen verwirklicht zu werden. So ist z. B. das Gesetz der Schwere, der Gravi¬ tation, wie es Newton auf das gestimmte Weltall anzuwenden gelehrt hat, gewiß ein unendlich allgemeines (allgemeiner als viele religiöse und politische Glaubens- sätze, welche kaum auf einen Theil der Erdoberfläche passen). Aber gleickwohl ist es dasselbe Gesetz, welches jüngst einen Astronomen befähigte, durch Berech¬ nung einer gestörten Trabantenbahn einen neuen Planeten zu entdecken, ehe er thu gesehen hatte: dasselbe Gesetz ist in unsern Dampfwagen, unsern Perte'uhren, in zahllosen menschlichen Einrichtungen verwirklicht und fernerhin zu verwirklichen. — Daraus folgt schon, daß echtes Wissen auch zur Ausführung seiner Aufgabe von selbst auf erkennbare, spezielle und sachentsprechende Mittel geführt wird; denn in Ermangelung solcher ist es zum Handeln unbefugt und unbefähigt. Dem Gläubigen aber fehlen diese unmittelbaren Verbindungsglieder zwischen seinen Ueberzeugungen und seinen Handlungen mehr oder weniger, je nachdem eben wehr oder weniger Wissensbruchstücke seinemGlauben beigemischt sind. Sehr hochschwe¬ bende allgemeine Glaubenssätze sind sogar in der Regel dnrch dieThat gar nicht zu ver¬ wirklichen, z. B. der Satz, „eS ist nur ein Gott und Mahomed ist sein Prophet. „Oder ste sind nur zu verwirklichen unter Voraussetzung von Möglichkeiten, welche in der Wirklichkeit nicht vorhanden sind oder gar nicht zur Sache selbst gehören: z. B. die Sätze, daß eine soziale Republik oder eine unbeschränkte Monarchie alle Uebel 22"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279547/175>, abgerufen am 15.01.2025.