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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band.

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Derartige Ereignisse sind ungemein häufig, man könnte sagen, gewöhnlich.
Die meisten Soldaten verkaufen die ihnen zugetheilte" Nahrungsmittel für einige
Pfennige und ersetzen dann das Mittagsmahl dnrch Branntwein, den sie nicht erst
kochen müssen. Diese Lebensweise ist die Ursache einer entsetzlichen Schlaffheit und
Maßlosigkeit. Unter den russischen Soldaten pflegt man sich in Deutschland ungeheure
Niesen, Brüder des Herkules vorzustellen; und doch sähe man sie in ihrem Garnisvn-
leden, wie sie mit geistlosen Mienen, dürruud mürbe, schwach und müde schlottern, man
müßte Mitleiden für sie empfinden, noch mehr Mitleiden, wenn man beobachtete, welche
Wirkung die Pflege derselben auf ihre Moral hat. Neben dem Exerciren betreibt der
Soldat das Stehlen nicht blos mit großer Liebe, sondern auch mit einer Art von Befug-
niß, denn die Offiziere hindern ihn nicht daran. Ich glaube, daß der gemeine russische
Soldat darin den polnischen Jahrmarktsjnden um nichts nachsteht. Bei Volks¬
festen, welche die Bewohner der Häuser aus ihren Wohnungen gelockt haben,
Pflegt er stets derjenige zu sein, welcher sich in den Häusern befindet und daS
Schloß einer jeden Thür prüft. Obschon er ziemlich plump verfährt, so erfreut er
sich doch nicht selten einer guten Beute. Küchen und Brvtschräicke haben für ihn
besondere Anziehungskraft. In Kalisch machte ich mit meiner Wirthin einen
Spaziergang nach dem Platze, auf welchem bei Illumination die Feier des kaiser¬
lichen Kröuungsfestes stattfand. Auf dem Heimwege begegnete uns ein russischer
Infanterist, der, alle Mienen seines braune" Gesichts von Glückseligkeit strahlend,
einen zur Hälfte in einen Lappen gewickelten großen gekochten Schinken nnter dem
Arme trug. Meine Begleiterin meinte: "wem der gestohlen ist, der wird sich nicht
wenig ärgern." Nach Hanse gelangt, fand sie, daß sie selbst die Gestohlene war.
Gleicherweise sind die gemeinen russischen Soldaten bei Jahr- und Wochenmärkten
in energischer Thätigkeit. Allenthalben sieht man sie zwischen den Buden schlei¬
chen und in ihren Taschen sind Dinge zu gewahren, von denen man nicht be¬
greift, wie sie natürlicherweise in den Besitz eines Spitale" gelange" können.
Gegenstände, welche Bedürfnisse der Frauen sind, haben sür sie besonderen Neiz,
Z. B. Zwirn, Band, Haftet, Zeuge, Tuche u. dergl. In den Kasernen hinter
dem sogenannten "eisernen Thore" in Warschau befindet sich an dem Wege "ach der
Electoralstraße ein tafelförmig gedeckter Brunnen. Dieser hat durch die Länge
des Gebrauchs förmlich die Bestimmung gewoiinen, eine militärische Handelsbank
zu sein. Auf ihm legen die Soldaten der Kaserne offen und ohne Scheu an je¬
dem Markttage die Gegenstände zum Verkauf aus, welche sie aus dem benachbar¬
ten Marktplatze (Grzybow) gestohlen habe". Hier pflegen sich eine Menge Frauen
der armen Klasse einzufinden und Zwirn, Band, Nadel" in. zu kaufen. Der
russische Soldat läßt seine Handelsartikel, da sie ihn selbst nichts kosten, zu einem
Spottpreise, und dies gibt dem Absätze Sicherheit. Die Offiziere gehen vorüber,
Md machen die handelnden Soldaten nur ihre Honneurs, so fällt es diese" gar
kunst el", die armen hungrige" Burschen darnach zu fragen, woher sie die Hau-


Derartige Ereignisse sind ungemein häufig, man könnte sagen, gewöhnlich.
Die meisten Soldaten verkaufen die ihnen zugetheilte» Nahrungsmittel für einige
Pfennige und ersetzen dann das Mittagsmahl dnrch Branntwein, den sie nicht erst
kochen müssen. Diese Lebensweise ist die Ursache einer entsetzlichen Schlaffheit und
Maßlosigkeit. Unter den russischen Soldaten pflegt man sich in Deutschland ungeheure
Niesen, Brüder des Herkules vorzustellen; und doch sähe man sie in ihrem Garnisvn-
leden, wie sie mit geistlosen Mienen, dürruud mürbe, schwach und müde schlottern, man
müßte Mitleiden für sie empfinden, noch mehr Mitleiden, wenn man beobachtete, welche
Wirkung die Pflege derselben auf ihre Moral hat. Neben dem Exerciren betreibt der
Soldat das Stehlen nicht blos mit großer Liebe, sondern auch mit einer Art von Befug-
niß, denn die Offiziere hindern ihn nicht daran. Ich glaube, daß der gemeine russische
Soldat darin den polnischen Jahrmarktsjnden um nichts nachsteht. Bei Volks¬
festen, welche die Bewohner der Häuser aus ihren Wohnungen gelockt haben,
Pflegt er stets derjenige zu sein, welcher sich in den Häusern befindet und daS
Schloß einer jeden Thür prüft. Obschon er ziemlich plump verfährt, so erfreut er
sich doch nicht selten einer guten Beute. Küchen und Brvtschräicke haben für ihn
besondere Anziehungskraft. In Kalisch machte ich mit meiner Wirthin einen
Spaziergang nach dem Platze, auf welchem bei Illumination die Feier des kaiser¬
lichen Kröuungsfestes stattfand. Auf dem Heimwege begegnete uns ein russischer
Infanterist, der, alle Mienen seines braune» Gesichts von Glückseligkeit strahlend,
einen zur Hälfte in einen Lappen gewickelten großen gekochten Schinken nnter dem
Arme trug. Meine Begleiterin meinte: „wem der gestohlen ist, der wird sich nicht
wenig ärgern." Nach Hanse gelangt, fand sie, daß sie selbst die Gestohlene war.
Gleicherweise sind die gemeinen russischen Soldaten bei Jahr- und Wochenmärkten
in energischer Thätigkeit. Allenthalben sieht man sie zwischen den Buden schlei¬
chen und in ihren Taschen sind Dinge zu gewahren, von denen man nicht be¬
greift, wie sie natürlicherweise in den Besitz eines Spitale» gelange» können.
Gegenstände, welche Bedürfnisse der Frauen sind, haben sür sie besonderen Neiz,
Z. B. Zwirn, Band, Haftet, Zeuge, Tuche u. dergl. In den Kasernen hinter
dem sogenannten „eisernen Thore" in Warschau befindet sich an dem Wege »ach der
Electoralstraße ein tafelförmig gedeckter Brunnen. Dieser hat durch die Länge
des Gebrauchs förmlich die Bestimmung gewoiinen, eine militärische Handelsbank
zu sein. Auf ihm legen die Soldaten der Kaserne offen und ohne Scheu an je¬
dem Markttage die Gegenstände zum Verkauf aus, welche sie aus dem benachbar¬
ten Marktplatze (Grzybow) gestohlen habe». Hier pflegen sich eine Menge Frauen
der armen Klasse einzufinden und Zwirn, Band, Nadel» in. zu kaufen. Der
russische Soldat läßt seine Handelsartikel, da sie ihn selbst nichts kosten, zu einem
Spottpreise, und dies gibt dem Absätze Sicherheit. Die Offiziere gehen vorüber,
Md machen die handelnden Soldaten nur ihre Honneurs, so fällt es diese» gar
kunst el», die armen hungrige» Burschen darnach zu fragen, woher sie die Hau-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279547/129>, abgerufen am 15.01.2025.