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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band.

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Das russische Heerwesen.



Wer Rußlands Heerwesen kennen lernen will, muß vorzugsweise die südlichen
und westlichen Theile des gewaltigen Reiches bereisen. Hier hat Nußland seine
größten Militärmassen aufgehäuft. Kurland und Liefland sind außerordentlich
stark mit Regimentern belegt, jedoch noch viel stärker das Königreich Polen, Li¬
thauen, Podolien und Wolhynien. Auch die Districte an der türkischen Grenze
sind mit starken Soldatenmassen angefüllt, desgleichen die am schwarzen Meere.
Im Innern Rußlands dagegen werden die Heeresmassen so verdünnt gefunden,
daß man mehrere Tage lang reisen kann, ohne auf eine uniformirte Gestalt zu
stoßen. Hier sind nur die wichtigsten Hauptstädte, wie Moskau, Nisny-Nowo-
grod, Kasan, Orenburg, Tula, Smolensk ze. besetzt, während in jenen Theilen
des Reiches selbst die kleinsten Orte ihre Besatzung haben. Diese sehr natürliche
Anordnung hat viele Reisende, welche nicht weit über die südlichen und westlichen
Gebietstheile hinauskamen, getäuscht, und den Glauben an eine kaum ermeßliche
russische Heeresmacht verbreitet. Sie haben gemeint, das ganze Riesenreich sei so
von Truppen erfüllt, wie die Districte, welche sie durchreisen, doch ist die Heeres¬
masse, die sie in den südlichen und westlichen Districten fanden, beinahe die ganze,
welche das. russische Reich besitzt, wovon schon 18Zi der klarste Beweis zu Tage
kam. Denn als Nußland seine sämmtlichen Regimenter aus diesen Neichstheilen
versammelt und dadurch ein Heer von 1U>,000 Mann mit 400 Kanonen gebildet
hatte, war es erschöpft, und hätte -- in demselben Jahre wenigstens -- kein Ba¬
taillon mehr nach Polen schicken können.

Allein es ist nicht sowohl die Soldatenmenge, welche die Macht erzeugt, als
der moralische Zustand der Soldaten. Mit dem ersten Schritte, welchen ich über
die russische Grenze that, machte schon der dortige Soldatenstand einen sehr unan-
genehmen Eindruck durch sein Aeußeres auf mich und kaum konnte ich eine an¬
dere Meinung fassen, als die, daß er aus einer Masse zusammengetriebenen losen
Gesindels bestehe. Der Kosakencapitän, mit welchem ich meines Passes halber zu
sprechen die Ehre haben mußte, war ein zottiger Mensch. Seine blaue Hästel-
jacke und weiten Beinkleider waren so verschabte, verschmutzte, unsaubere Gegen-


Grenzboten. lo. 134IZ. ig
Das russische Heerwesen.



Wer Rußlands Heerwesen kennen lernen will, muß vorzugsweise die südlichen
und westlichen Theile des gewaltigen Reiches bereisen. Hier hat Nußland seine
größten Militärmassen aufgehäuft. Kurland und Liefland sind außerordentlich
stark mit Regimentern belegt, jedoch noch viel stärker das Königreich Polen, Li¬
thauen, Podolien und Wolhynien. Auch die Districte an der türkischen Grenze
sind mit starken Soldatenmassen angefüllt, desgleichen die am schwarzen Meere.
Im Innern Rußlands dagegen werden die Heeresmassen so verdünnt gefunden,
daß man mehrere Tage lang reisen kann, ohne auf eine uniformirte Gestalt zu
stoßen. Hier sind nur die wichtigsten Hauptstädte, wie Moskau, Nisny-Nowo-
grod, Kasan, Orenburg, Tula, Smolensk ze. besetzt, während in jenen Theilen
des Reiches selbst die kleinsten Orte ihre Besatzung haben. Diese sehr natürliche
Anordnung hat viele Reisende, welche nicht weit über die südlichen und westlichen
Gebietstheile hinauskamen, getäuscht, und den Glauben an eine kaum ermeßliche
russische Heeresmacht verbreitet. Sie haben gemeint, das ganze Riesenreich sei so
von Truppen erfüllt, wie die Districte, welche sie durchreisen, doch ist die Heeres¬
masse, die sie in den südlichen und westlichen Districten fanden, beinahe die ganze,
welche das. russische Reich besitzt, wovon schon 18Zi der klarste Beweis zu Tage
kam. Denn als Nußland seine sämmtlichen Regimenter aus diesen Neichstheilen
versammelt und dadurch ein Heer von 1U>,000 Mann mit 400 Kanonen gebildet
hatte, war es erschöpft, und hätte — in demselben Jahre wenigstens — kein Ba¬
taillon mehr nach Polen schicken können.

Allein es ist nicht sowohl die Soldatenmenge, welche die Macht erzeugt, als
der moralische Zustand der Soldaten. Mit dem ersten Schritte, welchen ich über
die russische Grenze that, machte schon der dortige Soldatenstand einen sehr unan-
genehmen Eindruck durch sein Aeußeres auf mich und kaum konnte ich eine an¬
dere Meinung fassen, als die, daß er aus einer Masse zusammengetriebenen losen
Gesindels bestehe. Der Kosakencapitän, mit welchem ich meines Passes halber zu
sprechen die Ehre haben mußte, war ein zottiger Mensch. Seine blaue Hästel-
jacke und weiten Beinkleider waren so verschabte, verschmutzte, unsaubere Gegen-


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[0125] Das russische Heerwesen. Wer Rußlands Heerwesen kennen lernen will, muß vorzugsweise die südlichen und westlichen Theile des gewaltigen Reiches bereisen. Hier hat Nußland seine größten Militärmassen aufgehäuft. Kurland und Liefland sind außerordentlich stark mit Regimentern belegt, jedoch noch viel stärker das Königreich Polen, Li¬ thauen, Podolien und Wolhynien. Auch die Districte an der türkischen Grenze sind mit starken Soldatenmassen angefüllt, desgleichen die am schwarzen Meere. Im Innern Rußlands dagegen werden die Heeresmassen so verdünnt gefunden, daß man mehrere Tage lang reisen kann, ohne auf eine uniformirte Gestalt zu stoßen. Hier sind nur die wichtigsten Hauptstädte, wie Moskau, Nisny-Nowo- grod, Kasan, Orenburg, Tula, Smolensk ze. besetzt, während in jenen Theilen des Reiches selbst die kleinsten Orte ihre Besatzung haben. Diese sehr natürliche Anordnung hat viele Reisende, welche nicht weit über die südlichen und westlichen Gebietstheile hinauskamen, getäuscht, und den Glauben an eine kaum ermeßliche russische Heeresmacht verbreitet. Sie haben gemeint, das ganze Riesenreich sei so von Truppen erfüllt, wie die Districte, welche sie durchreisen, doch ist die Heeres¬ masse, die sie in den südlichen und westlichen Districten fanden, beinahe die ganze, welche das. russische Reich besitzt, wovon schon 18Zi der klarste Beweis zu Tage kam. Denn als Nußland seine sämmtlichen Regimenter aus diesen Neichstheilen versammelt und dadurch ein Heer von 1U>,000 Mann mit 400 Kanonen gebildet hatte, war es erschöpft, und hätte — in demselben Jahre wenigstens — kein Ba¬ taillon mehr nach Polen schicken können. Allein es ist nicht sowohl die Soldatenmenge, welche die Macht erzeugt, als der moralische Zustand der Soldaten. Mit dem ersten Schritte, welchen ich über die russische Grenze that, machte schon der dortige Soldatenstand einen sehr unan- genehmen Eindruck durch sein Aeußeres auf mich und kaum konnte ich eine an¬ dere Meinung fassen, als die, daß er aus einer Masse zusammengetriebenen losen Gesindels bestehe. Der Kosakencapitän, mit welchem ich meines Passes halber zu sprechen die Ehre haben mußte, war ein zottiger Mensch. Seine blaue Hästel- jacke und weiten Beinkleider waren so verschabte, verschmutzte, unsaubere Gegen- Grenzboten. lo. 134IZ. ig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279547/125>, abgerufen am 15.01.2025.