Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band.gen noch zu wenig gerüttelt, den Glauben an die Menschheit noch nicht verloren Der gefeiertste lebende Dichter der czechischen Zunge ist Johannes Kollar, Noch excentrischer als Kollar in dieser Hinsicht, ja bis zur Lächerlichkeit gen noch zu wenig gerüttelt, den Glauben an die Menschheit noch nicht verloren Der gefeiertste lebende Dichter der czechischen Zunge ist Johannes Kollar, Noch excentrischer als Kollar in dieser Hinsicht, ja bis zur Lächerlichkeit <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0100" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/279648"/> <p xml:id="ID_325" prev="#ID_324"> gen noch zu wenig gerüttelt, den Glauben an die Menschheit noch nicht verloren<lb/> und den Giftpokal brennender Schmerzen nur im herausfordernden Scherz an die<lb/> Lippen gesetzt. Niedrige Verhältnisse drückten ihn, Verhältnisse, die sein starkes<lb/> Gemüth in der Folge gewiß abgeschüttelt hätte. Seine Poesien sind keine Kon¬<lb/> sequenzen bitterer Lebenserfahrung, sondern ein genialer Mummenschanz mit dem<lb/> Schicksal und dem Leben in Vorhinein. Byron war ein unter dem Druck der<lb/> Schlange klagender Laokoon, M-laha ein träumerischer Alcides, der den Scheide¬<lb/> weg des Lebens kühn betrat, um die Schlange da zu suchen! — Auch in Ja-<lb/> roslaw Kalina 1847) verlor die czechische Muse ein großes Talent, das<lb/> leider zerrissen und auf Abwegen war, nichts desto weniger bleibt der geistreiche<lb/> und dabei naive Sonderling Kalina doch als dichterische Persönlichkeit denkwürdig.</p><lb/> <p xml:id="ID_326"> Der gefeiertste lebende Dichter der czechischen Zunge ist Johannes Kollar,<lb/> evangelischer Prediger der slovakischen Gemeinde zu Bnda-Pesth, geboren 1793<lb/> am 29. Juli zu Mosow in Ungarn, interessant in der Erscheinung durch einen<lb/> markanten Kopf, der viel Aehnlichkeit mit dem Napoleon's hat. Kollar bleibt epoche¬<lb/> machend durch seine Aufstellung der berühmten Theorie der slavischen Wechselseitig¬<lb/> keit (v^emnost), welche fördernd mächtig einzugreifen beginnt in das literarische<lb/> Leben der slavischen Stämme. Das Hauptwerk des Johannes Kollar ist der be¬<lb/> kannte Gedichtecyklus „isiav^ auel-it" (die Tochter des Ruhms), unter allen czechi¬<lb/> schen Dichtungen die verbreitetste und beliebteste; sie ist voll Schwung und glü¬<lb/> hender Begeisterung für den Panslavismus, dessen erster Verfechter Kollar noch<lb/> heute ist. Als Philologe ist Kollar höchst sinnreich und überaus gelehrt, aber<lb/> maßlos in Cvnjecturen, die scharfe Lupe der Kritik über der rosenfarbenen Brille<lb/> des Richters vergessend. Kollar sieht überall Slaven, nichts als Slaven und<lb/> slavische Reste, und schreibt jetzt ein großes Werk über slavische Reste und In-<lb/> scriptionen im alten Etrurien! —</p><lb/> <p xml:id="ID_327" next="#ID_328"> Noch excentrischer als Kollar in dieser Hinsicht, ja bis zur Lächerlichkeit<lb/> excentrisch ist ein anderer czechischer Dichter, Karl Winaricky (auch unter dem<lb/> Namen Slansky). Herr Winaricky meint steif und fest, alle fünf Welttheile seien<lb/> ursprünglich slavisch, der Mehrzahl nach aber speziell czeGsch. Winaricky hat ein<lb/> ganzes Buch darüber geschrieben, daß der Erfinder der Typographie, Jan Kutno-<lb/> horsl'y ein Böhme aus Kuttenberg gewesen, und sein, Nachfolger Fühl ein Prager,<lb/> der eigentlich Stjasny geheißen — und Jean de Cazzo hat dies Buch ins Fran¬<lb/> zösische übersetzt! Nächstens wird Herr Winaricky in allem Ernst beweisen, kein<lb/> Deutscher, sondern ein Böhme, Herr Czerny, habe das Pulver erfunden und ein<lb/> Böhme, Holubac aus Jenikan Amerika entdeckt, ungeschickte Skribenten nur hätten<lb/> einen Genuesen Columbus daraus gemacht! Als Lyriker hat Winaricky einige«<lb/> Schöne geleistet, doch ist uns in seinen meisten Gedichten die herrliche Form lieber<lb/> als der Inhalt. Als Uebersetzer des Virgil und Petrarka und der lateinischen<lb/> Schriften des Bohuslav von Lobkovic leistete er Ausgezeichnetes. Beachtung ver-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0100]
gen noch zu wenig gerüttelt, den Glauben an die Menschheit noch nicht verloren
und den Giftpokal brennender Schmerzen nur im herausfordernden Scherz an die
Lippen gesetzt. Niedrige Verhältnisse drückten ihn, Verhältnisse, die sein starkes
Gemüth in der Folge gewiß abgeschüttelt hätte. Seine Poesien sind keine Kon¬
sequenzen bitterer Lebenserfahrung, sondern ein genialer Mummenschanz mit dem
Schicksal und dem Leben in Vorhinein. Byron war ein unter dem Druck der
Schlange klagender Laokoon, M-laha ein träumerischer Alcides, der den Scheide¬
weg des Lebens kühn betrat, um die Schlange da zu suchen! — Auch in Ja-
roslaw Kalina 1847) verlor die czechische Muse ein großes Talent, das
leider zerrissen und auf Abwegen war, nichts desto weniger bleibt der geistreiche
und dabei naive Sonderling Kalina doch als dichterische Persönlichkeit denkwürdig.
Der gefeiertste lebende Dichter der czechischen Zunge ist Johannes Kollar,
evangelischer Prediger der slovakischen Gemeinde zu Bnda-Pesth, geboren 1793
am 29. Juli zu Mosow in Ungarn, interessant in der Erscheinung durch einen
markanten Kopf, der viel Aehnlichkeit mit dem Napoleon's hat. Kollar bleibt epoche¬
machend durch seine Aufstellung der berühmten Theorie der slavischen Wechselseitig¬
keit (v^emnost), welche fördernd mächtig einzugreifen beginnt in das literarische
Leben der slavischen Stämme. Das Hauptwerk des Johannes Kollar ist der be¬
kannte Gedichtecyklus „isiav^ auel-it" (die Tochter des Ruhms), unter allen czechi¬
schen Dichtungen die verbreitetste und beliebteste; sie ist voll Schwung und glü¬
hender Begeisterung für den Panslavismus, dessen erster Verfechter Kollar noch
heute ist. Als Philologe ist Kollar höchst sinnreich und überaus gelehrt, aber
maßlos in Cvnjecturen, die scharfe Lupe der Kritik über der rosenfarbenen Brille
des Richters vergessend. Kollar sieht überall Slaven, nichts als Slaven und
slavische Reste, und schreibt jetzt ein großes Werk über slavische Reste und In-
scriptionen im alten Etrurien! —
Noch excentrischer als Kollar in dieser Hinsicht, ja bis zur Lächerlichkeit
excentrisch ist ein anderer czechischer Dichter, Karl Winaricky (auch unter dem
Namen Slansky). Herr Winaricky meint steif und fest, alle fünf Welttheile seien
ursprünglich slavisch, der Mehrzahl nach aber speziell czeGsch. Winaricky hat ein
ganzes Buch darüber geschrieben, daß der Erfinder der Typographie, Jan Kutno-
horsl'y ein Böhme aus Kuttenberg gewesen, und sein, Nachfolger Fühl ein Prager,
der eigentlich Stjasny geheißen — und Jean de Cazzo hat dies Buch ins Fran¬
zösische übersetzt! Nächstens wird Herr Winaricky in allem Ernst beweisen, kein
Deutscher, sondern ein Böhme, Herr Czerny, habe das Pulver erfunden und ein
Böhme, Holubac aus Jenikan Amerika entdeckt, ungeschickte Skribenten nur hätten
einen Genuesen Columbus daraus gemacht! Als Lyriker hat Winaricky einige«
Schöne geleistet, doch ist uns in seinen meisten Gedichten die herrliche Form lieber
als der Inhalt. Als Uebersetzer des Virgil und Petrarka und der lateinischen
Schriften des Bohuslav von Lobkovic leistete er Ausgezeichnetes. Beachtung ver-
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