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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.

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dichtesten Gewühl. Alles ist voller Lust und Freude, alles ohne Rücksicht auf Ge¬
burt, Stand und Kleid. Der Pole scherzt mit der Deutschen, der Reiche mit der
Armen, die Damen mit den Herren "ut so umgekehrt. Jeder, Arm oder Reich,
trägt ein Johanuiskränzlein in der Hand, und wo er die Volksgcsellschast am hei¬
tersten und angenehmsten findet, da wirft er den Kranz in den Strom mit dem
leisen Wunsche, daß ihm der heilige Johannes dadurch, daß er den Kranz glück¬
lich davon, wo möglich bis aufs Meer führe, ein langes Leben oder den gün¬
stigen Ausgang einer Liebschaft oder etwas anderes Angenehme prophezeien möge.
Allein auf der Weichsel kreuzt em lustiges Völkchen von jungen Männern ans schma¬
len Kähnen. Dessen Funktion ist es, die Kränze, welche gewöhnlich auf einem
Bande deu geheimen Wunsch des Absenders oder der Absenderin in niedlichen
Reimen tragen, aufzufangen. Gelingt dies, so ist ein allgemeines Luk elgelächter
veranlaßt, welches dnrch die Publication der Reime zu einer geistigen Freude ver¬
edelt wird. Mau läßt sogar kleine Blnmenschiffe, deren Flagge die w"nschreichen
Reime tragen, von Stapel laufen, und mancher dieser kleinen Fahrzeuge gelingt
es glücklich bis in die Ostsee zu steuern.

Dieses Spiel ist ganz hübsch und erfreuend, doch ist es nicht gerade der Ge¬
genstand, welcher so viele Tausende von Menschen auf die Brücke zieht. Sils dieser
müßte man viel mehr den Drang angeben, sich einmal recht unmittelbar und un¬
gebunden in dem Völkchen zu sehen, mit welchen man in ein und derselben Um-
grenzung lebt. Man will sich einmal in einer recht echt bürgersinnigen Gesellschaft
befinden. Lust und Freude dauern bis gegen fünf Uhr Nachmittags in einer an¬
genehmen Natürlichkeit und Ungebundenheit. --

Nun aber ändert sich das Verhältniß. Es ist fünf Uhr. Der Fürst -- Pas-
kiewitsch naht zu Wagen die Böttigerstraße herab mit einem ansehnlichen Nachzug
von russischen Offizieren und Beamteten. Schon entfernen sich viele Personen von
der Brücke. Mit Lust kamen sie, sie jauchzten und gehen jetzt verdrießlich. Der
Fürst hat sich genähet. Jetzt brechen sich zahllose Polizeidiener dnrch die Menge
mit dem Geschrei: "Mützen und Hüte ab; der Fürststatthalter ist da!" Dieses
Kommando erfüllt die ganze Brücke von Warschau bis Praga. Die Freude, welche
man zuvor bei der ungestörtesten bürgerlichen Gleichheit genossen, ist jetzt mit
ewem Male zertrümmert. Die Russen sind erschienen. Da man nun, wollte man
der Nähe des Fürsten und seiner Generale bedeckt bleiben, die Fäuste der rus¬
sische" Polizeisöldliugc, ja sogar mehre Tage Gefängnißstrafe zu fürchten hat, so
entfernt man sich lieber. Daher begeben sich denn nun alle anständige Personen
nach Praga hinüber, und nur die Leute der niedrigsten Classe bleiben zurück.
Nachdem die russischen Herrschaften stolz die Brücke einige Mal ans und ab gefah¬
ren und geritten sind, und dieselbe verlassen haben, kehren die Entflohenen, zum
größer" Theile wenigstens, zurück. Allein das Fest ist gestört.

So wird in Warschau durch die verkehrte Weise, in welcher die russische Partei


dichtesten Gewühl. Alles ist voller Lust und Freude, alles ohne Rücksicht auf Ge¬
burt, Stand und Kleid. Der Pole scherzt mit der Deutschen, der Reiche mit der
Armen, die Damen mit den Herren »ut so umgekehrt. Jeder, Arm oder Reich,
trägt ein Johanuiskränzlein in der Hand, und wo er die Volksgcsellschast am hei¬
tersten und angenehmsten findet, da wirft er den Kranz in den Strom mit dem
leisen Wunsche, daß ihm der heilige Johannes dadurch, daß er den Kranz glück¬
lich davon, wo möglich bis aufs Meer führe, ein langes Leben oder den gün¬
stigen Ausgang einer Liebschaft oder etwas anderes Angenehme prophezeien möge.
Allein auf der Weichsel kreuzt em lustiges Völkchen von jungen Männern ans schma¬
len Kähnen. Dessen Funktion ist es, die Kränze, welche gewöhnlich auf einem
Bande deu geheimen Wunsch des Absenders oder der Absenderin in niedlichen
Reimen tragen, aufzufangen. Gelingt dies, so ist ein allgemeines Luk elgelächter
veranlaßt, welches dnrch die Publication der Reime zu einer geistigen Freude ver¬
edelt wird. Mau läßt sogar kleine Blnmenschiffe, deren Flagge die w»nschreichen
Reime tragen, von Stapel laufen, und mancher dieser kleinen Fahrzeuge gelingt
es glücklich bis in die Ostsee zu steuern.

Dieses Spiel ist ganz hübsch und erfreuend, doch ist es nicht gerade der Ge¬
genstand, welcher so viele Tausende von Menschen auf die Brücke zieht. Sils dieser
müßte man viel mehr den Drang angeben, sich einmal recht unmittelbar und un¬
gebunden in dem Völkchen zu sehen, mit welchen man in ein und derselben Um-
grenzung lebt. Man will sich einmal in einer recht echt bürgersinnigen Gesellschaft
befinden. Lust und Freude dauern bis gegen fünf Uhr Nachmittags in einer an¬
genehmen Natürlichkeit und Ungebundenheit. —

Nun aber ändert sich das Verhältniß. Es ist fünf Uhr. Der Fürst — Pas-
kiewitsch naht zu Wagen die Böttigerstraße herab mit einem ansehnlichen Nachzug
von russischen Offizieren und Beamteten. Schon entfernen sich viele Personen von
der Brücke. Mit Lust kamen sie, sie jauchzten und gehen jetzt verdrießlich. Der
Fürst hat sich genähet. Jetzt brechen sich zahllose Polizeidiener dnrch die Menge
mit dem Geschrei: „Mützen und Hüte ab; der Fürststatthalter ist da!" Dieses
Kommando erfüllt die ganze Brücke von Warschau bis Praga. Die Freude, welche
man zuvor bei der ungestörtesten bürgerlichen Gleichheit genossen, ist jetzt mit
ewem Male zertrümmert. Die Russen sind erschienen. Da man nun, wollte man
der Nähe des Fürsten und seiner Generale bedeckt bleiben, die Fäuste der rus¬
sische» Polizeisöldliugc, ja sogar mehre Tage Gefängnißstrafe zu fürchten hat, so
entfernt man sich lieber. Daher begeben sich denn nun alle anständige Personen
nach Praga hinüber, und nur die Leute der niedrigsten Classe bleiben zurück.
Nachdem die russischen Herrschaften stolz die Brücke einige Mal ans und ab gefah¬
ren und geritten sind, und dieselbe verlassen haben, kehren die Entflohenen, zum
größer« Theile wenigstens, zurück. Allein das Fest ist gestört.

So wird in Warschau durch die verkehrte Weise, in welcher die russische Partei


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/495>, abgerufen am 05.02.2025.