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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.

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Die Gesellschaft in Warschau.



Als ich auf einer meiner letzten Reisen die Nähe Warschau's erreicht hatte,
der Stadt, welche vor kaum einem Jahrhundert im nördlichen Enropa noch mehr
war, als heut' Berlin, Wien oder Petersburg, weckte mein Reisegefährte, der
Professor Schulz, mich ans dem Schlummer mit deu Worten: "da ist sie ja schon
die blühende Ruine, die Werkstätte der moralischen Vernichtung eines herrlichen
großen Volks!"

Ich schlug die Augen auf. Vor mir lag Warschau mit seinen prangenden
Kuppeln. Warschau war mir bereits einen langen Zeitraum hindurch eine Art
Heimath gewesen; jetzt mußte ich's abermals kennen lernen. Was ich früher mit
den harmlos flüchtigen Blicke eines gut bürgerlichen, mehr mit sich selbst als sonst
etwas beschäftigten Einwohners angesehen, hatte ich auf's Neue durch das Glas
z" betrachte", welches mir I. Schulz durch seine Behauptung vor's Auge gedrückt.

Die Kirche der deutscheu Protestanten, die köstliche Nachahmung Se. Peters
zu Rom, verbarg sich immer mehr hinter dem vor ihr liegenden Häusergebirge;
eben so die hohe russische Kirche, deren fünf byzantinische, mit einer Saat von
goldenen Sternen überstreuete blaue Kuppel" leuchtend über die weite Stadt hin¬
blickte", wie wenn die russische Herrschaft aus göttlicher Bestimmung hervorgegan¬
gen wäre.

Bald befanden wir uns am Schlagbäume. Aus dem Thorcontrolhause zur
Rechten stürzten fünf bis zehn grün uniformirte Männer, die Hand offen, den
Blick voll Verlangen nach freundschaftlichem, wen" anch unverdienten Trinkgeld,
ZU uns herau. Aus dem Wachthanse zur Linke" näherte sich uus ein ganzer Haufe
von Soldaten mit gleichen Rechten, Geberden und Wünschen. Die Leute von
Rechts und Links waren Russen.

Ich ließ nach Brauch aus meiner Hand auf dieser Seite, mein Gefährte aus
der seinigen auf der anderen Seite ein kleines Geldstück fallen; hier und dort
waren die Russen befriedigt, sie verbeugten sich tief und ließen uns fahren. Eine
lange Strecke hin begleiteten uns zu beide" Seite" kleine Hütten, auf deren
Schwellen "ackte Knaben, das Haupt mit Sammetkäppchen bedeckt, spielten, und


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Die Gesellschaft in Warschau.



Als ich auf einer meiner letzten Reisen die Nähe Warschau's erreicht hatte,
der Stadt, welche vor kaum einem Jahrhundert im nördlichen Enropa noch mehr
war, als heut' Berlin, Wien oder Petersburg, weckte mein Reisegefährte, der
Professor Schulz, mich ans dem Schlummer mit deu Worten: „da ist sie ja schon
die blühende Ruine, die Werkstätte der moralischen Vernichtung eines herrlichen
großen Volks!"

Ich schlug die Augen auf. Vor mir lag Warschau mit seinen prangenden
Kuppeln. Warschau war mir bereits einen langen Zeitraum hindurch eine Art
Heimath gewesen; jetzt mußte ich's abermals kennen lernen. Was ich früher mit
den harmlos flüchtigen Blicke eines gut bürgerlichen, mehr mit sich selbst als sonst
etwas beschäftigten Einwohners angesehen, hatte ich auf's Neue durch das Glas
z» betrachte», welches mir I. Schulz durch seine Behauptung vor's Auge gedrückt.

Die Kirche der deutscheu Protestanten, die köstliche Nachahmung Se. Peters
zu Rom, verbarg sich immer mehr hinter dem vor ihr liegenden Häusergebirge;
eben so die hohe russische Kirche, deren fünf byzantinische, mit einer Saat von
goldenen Sternen überstreuete blaue Kuppel» leuchtend über die weite Stadt hin¬
blickte», wie wenn die russische Herrschaft aus göttlicher Bestimmung hervorgegan¬
gen wäre.

Bald befanden wir uns am Schlagbäume. Aus dem Thorcontrolhause zur
Rechten stürzten fünf bis zehn grün uniformirte Männer, die Hand offen, den
Blick voll Verlangen nach freundschaftlichem, wen» anch unverdienten Trinkgeld,
ZU uns herau. Aus dem Wachthanse zur Linke» näherte sich uus ein ganzer Haufe
von Soldaten mit gleichen Rechten, Geberden und Wünschen. Die Leute von
Rechts und Links waren Russen.

Ich ließ nach Brauch aus meiner Hand auf dieser Seite, mein Gefährte aus
der seinigen auf der anderen Seite ein kleines Geldstück fallen; hier und dort
waren die Russen befriedigt, sie verbeugten sich tief und ließen uns fahren. Eine
lange Strecke hin begleiteten uns zu beide» Seite» kleine Hütten, auf deren
Schwellen »ackte Knaben, das Haupt mit Sammetkäppchen bedeckt, spielten, und


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[0481] Die Gesellschaft in Warschau. Als ich auf einer meiner letzten Reisen die Nähe Warschau's erreicht hatte, der Stadt, welche vor kaum einem Jahrhundert im nördlichen Enropa noch mehr war, als heut' Berlin, Wien oder Petersburg, weckte mein Reisegefährte, der Professor Schulz, mich ans dem Schlummer mit deu Worten: „da ist sie ja schon die blühende Ruine, die Werkstätte der moralischen Vernichtung eines herrlichen großen Volks!" Ich schlug die Augen auf. Vor mir lag Warschau mit seinen prangenden Kuppeln. Warschau war mir bereits einen langen Zeitraum hindurch eine Art Heimath gewesen; jetzt mußte ich's abermals kennen lernen. Was ich früher mit den harmlos flüchtigen Blicke eines gut bürgerlichen, mehr mit sich selbst als sonst etwas beschäftigten Einwohners angesehen, hatte ich auf's Neue durch das Glas z» betrachte», welches mir I. Schulz durch seine Behauptung vor's Auge gedrückt. Die Kirche der deutscheu Protestanten, die köstliche Nachahmung Se. Peters zu Rom, verbarg sich immer mehr hinter dem vor ihr liegenden Häusergebirge; eben so die hohe russische Kirche, deren fünf byzantinische, mit einer Saat von goldenen Sternen überstreuete blaue Kuppel» leuchtend über die weite Stadt hin¬ blickte», wie wenn die russische Herrschaft aus göttlicher Bestimmung hervorgegan¬ gen wäre. Bald befanden wir uns am Schlagbäume. Aus dem Thorcontrolhause zur Rechten stürzten fünf bis zehn grün uniformirte Männer, die Hand offen, den Blick voll Verlangen nach freundschaftlichem, wen» anch unverdienten Trinkgeld, ZU uns herau. Aus dem Wachthanse zur Linke» näherte sich uus ein ganzer Haufe von Soldaten mit gleichen Rechten, Geberden und Wünschen. Die Leute von Rechts und Links waren Russen. Ich ließ nach Brauch aus meiner Hand auf dieser Seite, mein Gefährte aus der seinigen auf der anderen Seite ein kleines Geldstück fallen; hier und dort waren die Russen befriedigt, sie verbeugten sich tief und ließen uns fahren. Eine lange Strecke hin begleiteten uns zu beide» Seite» kleine Hütten, auf deren Schwellen »ackte Knaben, das Haupt mit Sammetkäppchen bedeckt, spielten, und Grenzbote». i>,. igq». «1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/481>, abgerufen am 05.02.2025.