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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.

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ein hiesiger Regierungsrath, ein geachteter tüchtiger Geschäftsmann, auf einmal
eine unerklärliche Wuth auf Rebusse, wo er steht, sitzt, geht, zeichnet oder knackt
er Rebusse, sogar in seine Akten; alle illustrirten Zeitungen, Modeblätter und
was sonst Rcbnsse enthält, durchwühlt er wie fanatisirt mit immer wachsender Auf¬
regung. Die Familie ersucht mich, den Zustand des Kranken zu untersuchen.
Mit aller Vorsicht ging ich zu Werke, gewann mir sein Vertrauen dadurch, daß
ich auf seiue Liebhaberei einging und ihn mit den berühmtesten Nebusseu Deutsch¬
lands bekannt machte, z. B. einem L, neben welches kein Kutscher gezeichnet wird,
sondern gar nichts, welches L--ohutntscher bedeutet u. s. w., bis er mich endlich
vertraulich in eine Ecke nahm und mir zuraunte: "Doctor, ich bin nicht krank,
was ich thue, muß ich aus Dienstpflicht thun, ich sehe keine Möglichkeit, das
Wahlgesetz zu verstehen und arbeite dahin, mir eine größere Fertigkeit im Erra¬
then geistreicher Aufgaben zu erwerben, leider war meine Mühe bis jetzt fruchtlos.
Ich sah in sein bleiches Gesicht, in den hektischen Glanz seiner Augen, drückte
ihm schweigend die Hand und schied mit Wehmuth im Herze". -- Aber uoch
schlimmer geht es deu armen Wahlcommissarieu in der Provinz. Der Landrath
in O., ein sehr gutherziger, wvhlhäbiger Aristokrat ist ein interessanter Fall. Er
erhält das Wahlgesetz, als er grade beim Kaffee sitzt. Triumphircud überfliegt
er das Blatt und sagt: Gott sei Dank, jetzt werden wir die Demokraten los.
Des Abends am Theetisch erscheint er noch vergnügter nud sagt zu seiner Frau
die Hände reibend: ich wähle in meinem Dorf in der töten Classe allein, das
Gesetz ist fein, sehr sein und schwierig, je mehr ich es durchlese, desto mehr Sub-
tilitäten finde ich. Am nächsten Morgen kommt er nicht mehr zum Frühstück her¬
auf. Die Landräthin geht endlich in sein Zimmer und findet ihn noch im Schlas-
wck bei verschlossenen Läden und hcruutergebrauuten Lichtern an seinem Arbeitstisch
sitzen, das Wahlgesetz liegt aufgeschlagen vor ihm, er starrt regungslos hinein.
Nach langem Rütteln kommt er endlich zu sich, schüttelt traurig den Kopf, steht
seine Frau recht beweglich an und flüstert mit heiserer Stimme : ich bin ein Drittel!
-- Seit der Stunde hat er nichts gesprochen, als diese Worte: ich bin ein Drittel! ich
bin ein Drittel! -- Alle, die den Ehrenmann kennen, beklagen seinen Zustand, doch da
er eine durchaus aristokratische Natur ist, habe ich Hoffnung, daß er wieder genesen
wird, das Denken wird ihn nicht zu Grunde richten. -- Wenn noch nach dem
verhängnißvollen Wahlgesetz gewählt werden sollte, werden wir eine große Menge
von Willkürlichkeiten der Beamten, von Mißgriffe", Thorheit und Verwirrung er¬
leben, ich werde mir die Ehre geben, auch darüber getreulich zu berichten.

So treiben wir Possen mit der Zeit und über unseren Häuptern schwebt noch
A. immer das Grauen des Todes.




Verlag von F. L. Herbig. -- Redacteure: Gustav Freytag und Julian Schmidt.
Druck von Friedrich Andrä.

ein hiesiger Regierungsrath, ein geachteter tüchtiger Geschäftsmann, auf einmal
eine unerklärliche Wuth auf Rebusse, wo er steht, sitzt, geht, zeichnet oder knackt
er Rebusse, sogar in seine Akten; alle illustrirten Zeitungen, Modeblätter und
was sonst Rcbnsse enthält, durchwühlt er wie fanatisirt mit immer wachsender Auf¬
regung. Die Familie ersucht mich, den Zustand des Kranken zu untersuchen.
Mit aller Vorsicht ging ich zu Werke, gewann mir sein Vertrauen dadurch, daß
ich auf seiue Liebhaberei einging und ihn mit den berühmtesten Nebusseu Deutsch¬
lands bekannt machte, z. B. einem L, neben welches kein Kutscher gezeichnet wird,
sondern gar nichts, welches L—ohutntscher bedeutet u. s. w., bis er mich endlich
vertraulich in eine Ecke nahm und mir zuraunte: „Doctor, ich bin nicht krank,
was ich thue, muß ich aus Dienstpflicht thun, ich sehe keine Möglichkeit, das
Wahlgesetz zu verstehen und arbeite dahin, mir eine größere Fertigkeit im Erra¬
then geistreicher Aufgaben zu erwerben, leider war meine Mühe bis jetzt fruchtlos.
Ich sah in sein bleiches Gesicht, in den hektischen Glanz seiner Augen, drückte
ihm schweigend die Hand und schied mit Wehmuth im Herze». — Aber uoch
schlimmer geht es deu armen Wahlcommissarieu in der Provinz. Der Landrath
in O., ein sehr gutherziger, wvhlhäbiger Aristokrat ist ein interessanter Fall. Er
erhält das Wahlgesetz, als er grade beim Kaffee sitzt. Triumphircud überfliegt
er das Blatt und sagt: Gott sei Dank, jetzt werden wir die Demokraten los.
Des Abends am Theetisch erscheint er noch vergnügter nud sagt zu seiner Frau
die Hände reibend: ich wähle in meinem Dorf in der töten Classe allein, das
Gesetz ist fein, sehr sein und schwierig, je mehr ich es durchlese, desto mehr Sub-
tilitäten finde ich. Am nächsten Morgen kommt er nicht mehr zum Frühstück her¬
auf. Die Landräthin geht endlich in sein Zimmer und findet ihn noch im Schlas-
wck bei verschlossenen Läden und hcruutergebrauuten Lichtern an seinem Arbeitstisch
sitzen, das Wahlgesetz liegt aufgeschlagen vor ihm, er starrt regungslos hinein.
Nach langem Rütteln kommt er endlich zu sich, schüttelt traurig den Kopf, steht
seine Frau recht beweglich an und flüstert mit heiserer Stimme : ich bin ein Drittel!
— Seit der Stunde hat er nichts gesprochen, als diese Worte: ich bin ein Drittel! ich
bin ein Drittel! — Alle, die den Ehrenmann kennen, beklagen seinen Zustand, doch da
er eine durchaus aristokratische Natur ist, habe ich Hoffnung, daß er wieder genesen
wird, das Denken wird ihn nicht zu Grunde richten. — Wenn noch nach dem
verhängnißvollen Wahlgesetz gewählt werden sollte, werden wir eine große Menge
von Willkürlichkeiten der Beamten, von Mißgriffe», Thorheit und Verwirrung er¬
leben, ich werde mir die Ehre geben, auch darüber getreulich zu berichten.

So treiben wir Possen mit der Zeit und über unseren Häuptern schwebt noch
A. immer das Grauen des Todes.




Verlag von F. L. Herbig. — Redacteure: Gustav Freytag und Julian Schmidt.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/48>, abgerufen am 05.02.2025.