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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.

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tigsten Bestandtheile der Ethnographie bildet. Sprachgrenzen und Völkergrenzen
sind ja identische Begriffe. -- Es ist eine bekannte Erscheinung, daß in unserer euro¬
päischen Cultnreutwicklnng Volks- und Staatengrenzen ohne Ausnahme auseinander-
fallen. So ist es in England, wo große von Celten also Nichtengländern bewohnte
Landestheile innerhalb der Staatsgrenze liegen, ebenso in Frankreich, Spanien u. s. w.
Mit Deutschland verglichen, wo dasselbe stattfindet, befinden sich freilich alle ge¬
nannten und nicht genannten Länder in dieser Hinsicht in großem Vortheile. Ent¬
weder sind dort die fremdartigen Bestandtheile unbedeutend an Zahl und an cul¬
turhistorischer und politischer Wichtigkeit, wie jene Ueberreste neidischer Bevölkerung,
die in Wales und "Hochschottland bis heute ihre Existenz fristen oder sie sind ver¬
möge ihrer geographischen Stellung genöthigt, sich in allen Dingen an die Ent¬
wicklung des Hauptvolkes anzuschließen, wie die celtischen Bewohner der Bretagne,
die auf drei Seiten vom Meere und auf der vierten von der compacten Masse
des französischen Volks umschlossen, schon dadurch keine Befähigung zu irgend einer
selbstständigen Entfaltung haben.

In Deutschland dagegen ist einmal die Masse der nichtdeutschen Bevölkerung
wenigstens in seiner östlichen Hälfte numerisch sehr bedeutend. Zieht man eine
Linie von Trient nach Lübeck, die Deutschland in zwei ziemlich gleiche Hälften zer¬
legen wende, so enthält die rechts oder östlich davon gelegene,, die deutschöstreichi¬
schen Lande eingerechnet, fast ein Drittel nichtdeutscher, slavischer Bevölkerung, und
wollte man Oestreich davon abziehn, so würde doch noch das Verhältniß der einen
zu der andern immer wie eins zu vier sein. Feruer hängen diese Slaven fast
ohne Ausnahme mit der compacten Masse ihres Volkes zusammen, und erhalten
durch diesen imposanten Hintergrund eine Bedeutung, welche die Celten Englands
und Frankreichs oder die Basken Spaniens niemals erhalten würden, wäre auch
ihre Zahl drei oder viermal so groß als sie ist.

So lange die Slaven ein passives Glied in der Reihe der europäischen Na¬
tionen waren, mochte es für unsere deutschen Staatsmänner erlaubt sein, das be¬
denkliche dieses Verhältnisses zu übersehen. Gegenwärtig jedoch, besonders nach
den Ereignissen des letzten Jahres, ist ein solches Uebersehen nicht länger statthaft.
Man muß sich wenigstens über den Thatbestand und über die nächsten Folgerungen
derselben klar werden.

Ein Blick auf unsere Sprachkarte lehrt, daß einer der Hauptsitze deutscher
Cultur im Nordosten, Ostpreußen, fast wie ein detachirtcs Fort mitten in das
Slaventhum hineinragt; im Osten, Westen und Süden davon umgeben steht es
nur durch die See und durch eine sehr schmale und langgedehnte Zunge vou deut¬
schem Lande, im Südwesten mit dem übrigen Deutschland in unmittelbarer Ver¬
bindung. , , > ' , , ,

Südlich davon dringt das Slaventhum keilförmig zwischen den ganz deutschen
Netz-District und Pommern aus der einen und Niederschlesien ans der andern


tigsten Bestandtheile der Ethnographie bildet. Sprachgrenzen und Völkergrenzen
sind ja identische Begriffe. — Es ist eine bekannte Erscheinung, daß in unserer euro¬
päischen Cultnreutwicklnng Volks- und Staatengrenzen ohne Ausnahme auseinander-
fallen. So ist es in England, wo große von Celten also Nichtengländern bewohnte
Landestheile innerhalb der Staatsgrenze liegen, ebenso in Frankreich, Spanien u. s. w.
Mit Deutschland verglichen, wo dasselbe stattfindet, befinden sich freilich alle ge¬
nannten und nicht genannten Länder in dieser Hinsicht in großem Vortheile. Ent¬
weder sind dort die fremdartigen Bestandtheile unbedeutend an Zahl und an cul¬
turhistorischer und politischer Wichtigkeit, wie jene Ueberreste neidischer Bevölkerung,
die in Wales und "Hochschottland bis heute ihre Existenz fristen oder sie sind ver¬
möge ihrer geographischen Stellung genöthigt, sich in allen Dingen an die Ent¬
wicklung des Hauptvolkes anzuschließen, wie die celtischen Bewohner der Bretagne,
die auf drei Seiten vom Meere und auf der vierten von der compacten Masse
des französischen Volks umschlossen, schon dadurch keine Befähigung zu irgend einer
selbstständigen Entfaltung haben.

In Deutschland dagegen ist einmal die Masse der nichtdeutschen Bevölkerung
wenigstens in seiner östlichen Hälfte numerisch sehr bedeutend. Zieht man eine
Linie von Trient nach Lübeck, die Deutschland in zwei ziemlich gleiche Hälften zer¬
legen wende, so enthält die rechts oder östlich davon gelegene,, die deutschöstreichi¬
schen Lande eingerechnet, fast ein Drittel nichtdeutscher, slavischer Bevölkerung, und
wollte man Oestreich davon abziehn, so würde doch noch das Verhältniß der einen
zu der andern immer wie eins zu vier sein. Feruer hängen diese Slaven fast
ohne Ausnahme mit der compacten Masse ihres Volkes zusammen, und erhalten
durch diesen imposanten Hintergrund eine Bedeutung, welche die Celten Englands
und Frankreichs oder die Basken Spaniens niemals erhalten würden, wäre auch
ihre Zahl drei oder viermal so groß als sie ist.

So lange die Slaven ein passives Glied in der Reihe der europäischen Na¬
tionen waren, mochte es für unsere deutschen Staatsmänner erlaubt sein, das be¬
denkliche dieses Verhältnisses zu übersehen. Gegenwärtig jedoch, besonders nach
den Ereignissen des letzten Jahres, ist ein solches Uebersehen nicht länger statthaft.
Man muß sich wenigstens über den Thatbestand und über die nächsten Folgerungen
derselben klar werden.

Ein Blick auf unsere Sprachkarte lehrt, daß einer der Hauptsitze deutscher
Cultur im Nordosten, Ostpreußen, fast wie ein detachirtcs Fort mitten in das
Slaventhum hineinragt; im Osten, Westen und Süden davon umgeben steht es
nur durch die See und durch eine sehr schmale und langgedehnte Zunge vou deut¬
schem Lande, im Südwesten mit dem übrigen Deutschland in unmittelbarer Ver¬
bindung. , , > ' , , ,

Südlich davon dringt das Slaventhum keilförmig zwischen den ganz deutschen
Netz-District und Pommern aus der einen und Niederschlesien ans der andern


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[0416] tigsten Bestandtheile der Ethnographie bildet. Sprachgrenzen und Völkergrenzen sind ja identische Begriffe. — Es ist eine bekannte Erscheinung, daß in unserer euro¬ päischen Cultnreutwicklnng Volks- und Staatengrenzen ohne Ausnahme auseinander- fallen. So ist es in England, wo große von Celten also Nichtengländern bewohnte Landestheile innerhalb der Staatsgrenze liegen, ebenso in Frankreich, Spanien u. s. w. Mit Deutschland verglichen, wo dasselbe stattfindet, befinden sich freilich alle ge¬ nannten und nicht genannten Länder in dieser Hinsicht in großem Vortheile. Ent¬ weder sind dort die fremdartigen Bestandtheile unbedeutend an Zahl und an cul¬ turhistorischer und politischer Wichtigkeit, wie jene Ueberreste neidischer Bevölkerung, die in Wales und "Hochschottland bis heute ihre Existenz fristen oder sie sind ver¬ möge ihrer geographischen Stellung genöthigt, sich in allen Dingen an die Ent¬ wicklung des Hauptvolkes anzuschließen, wie die celtischen Bewohner der Bretagne, die auf drei Seiten vom Meere und auf der vierten von der compacten Masse des französischen Volks umschlossen, schon dadurch keine Befähigung zu irgend einer selbstständigen Entfaltung haben. In Deutschland dagegen ist einmal die Masse der nichtdeutschen Bevölkerung wenigstens in seiner östlichen Hälfte numerisch sehr bedeutend. Zieht man eine Linie von Trient nach Lübeck, die Deutschland in zwei ziemlich gleiche Hälften zer¬ legen wende, so enthält die rechts oder östlich davon gelegene,, die deutschöstreichi¬ schen Lande eingerechnet, fast ein Drittel nichtdeutscher, slavischer Bevölkerung, und wollte man Oestreich davon abziehn, so würde doch noch das Verhältniß der einen zu der andern immer wie eins zu vier sein. Feruer hängen diese Slaven fast ohne Ausnahme mit der compacten Masse ihres Volkes zusammen, und erhalten durch diesen imposanten Hintergrund eine Bedeutung, welche die Celten Englands und Frankreichs oder die Basken Spaniens niemals erhalten würden, wäre auch ihre Zahl drei oder viermal so groß als sie ist. So lange die Slaven ein passives Glied in der Reihe der europäischen Na¬ tionen waren, mochte es für unsere deutschen Staatsmänner erlaubt sein, das be¬ denkliche dieses Verhältnisses zu übersehen. Gegenwärtig jedoch, besonders nach den Ereignissen des letzten Jahres, ist ein solches Uebersehen nicht länger statthaft. Man muß sich wenigstens über den Thatbestand und über die nächsten Folgerungen derselben klar werden. Ein Blick auf unsere Sprachkarte lehrt, daß einer der Hauptsitze deutscher Cultur im Nordosten, Ostpreußen, fast wie ein detachirtcs Fort mitten in das Slaventhum hineinragt; im Osten, Westen und Süden davon umgeben steht es nur durch die See und durch eine sehr schmale und langgedehnte Zunge vou deut¬ schem Lande, im Südwesten mit dem übrigen Deutschland in unmittelbarer Ver¬ bindung. , , > ' , , , Südlich davon dringt das Slaventhum keilförmig zwischen den ganz deutschen Netz-District und Pommern aus der einen und Niederschlesien ans der andern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/416>, abgerufen am 05.02.2025.