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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.

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Widersprüche in derselben, mußte sie die Hohlheit und das Scheinwesen des Le¬
bens um so schmerzlicher berühren.

Ein durchgehender Zug in Shakespeare's Gedichten, auf den Gervinus ganz
mit Recht aufmerksam macht, ist der Haß gegen die Lüge, gegen den Schein, der
sich selbst auf Aeußerlichkeiten erstreckt. Nun denke man sich einen solchen Geist,
mit dem energischen leidenschaftlichen Gefühl, das ihm eigen war, auf sein ver^
gangenes Leben zurückblicke", das lediglich dem Schein gewidmet war, das dar¬
stellt, was nicht war, und verbarg, was in ihm lag; man denke sich diese Be¬
trachtung erweitert durch einen Blick auf das Leben selbst, in dem er das Unrecht
des Rechtes, das Böse des Gute", das Häßliche des Schönen so tief durchdacht
hatte, man fasse diesen Blick in eine concentrirte Stimmung zusammen, und man
wird die Todtengräbersccue im Hamlet, das Nachtstück auf der Heide in Lear
zwischen den drei wirklichen und scheinbare" Wahnsinnigen, die Virtuosität, mit
der die dämonische Lust des Bösen z. B. in Jago ausgeführt ist, und die Ge¬
spräche zwischen den Lästerern Timon und Apemantnö -- dieses Stück wird we¬
nigstens keiner für ein dramatisches Kunstwerk ausgeben -- vollkommen begreiflich
finden. Aber man wird sich eines unheimlichen Gefühls nicht erwehren können,
indem man es begreift.

Es läßt sich diese Nachtseite der Shakespeareschen Poesie noch viel weiter
ausführen, doch muß ich hier abbrechen. Ich bemerke nur noch, daß er iivdieser Dar¬
stellung des Protestantismus einzig geblieben ist. Die Puritaner legten sogleich
Hand an's Werk, ihr Reich Gottes einzurichten, die deutschen Pietisten und My¬
stiker waren zu schwächlich und subjectiv, um überhaupt tief zu empfinden. Milton
legte das Problem des Bösen wieder ins Aeußerliche. Auch in dieser, bisher
noch wenig beachteten Richtung ist er ohne Gleichen.




Der dänische General Rye und der Kampf in Jütland )



Beim Beginn des Krieges von 48 war die dänische Armee keineswegs in gehörigem
Stande. In 34 Friedensjahren war es allgemeiner Glaube geworden, daß Däne-
Mark nie mehr in einen ernsten Krieg verwickelt werden könne. Der Militäretat



*) Die folgende Skizze ist uns von einem Dänen eingesandt worden. Wir theilen die¬
selbe gern mit, weil wir annehmen, base es unsern Lesern interessant sein muß, zu erfahren,
'vie das unbefangene Urtheil in Dänemark die Kriegführung der Preußen in Jütland belrach-
"'t. Ohne Zweifel werden wir einst eine militärische Kritik des verhängnißvollen Feldzugs er¬
halten, bis dahin ist's Pflicht der Tagespresse Alles mitzutheilen, was für die öffentliche Mei¬
nung in Deutschland maßgebend werden darf. Die Redaction hat in der letzten Nummer der
Grenzboten ihre Ueberzeugungen in Betreff des fatalen Waffenstillstandes offen ausgesprochen,

Widersprüche in derselben, mußte sie die Hohlheit und das Scheinwesen des Le¬
bens um so schmerzlicher berühren.

Ein durchgehender Zug in Shakespeare's Gedichten, auf den Gervinus ganz
mit Recht aufmerksam macht, ist der Haß gegen die Lüge, gegen den Schein, der
sich selbst auf Aeußerlichkeiten erstreckt. Nun denke man sich einen solchen Geist,
mit dem energischen leidenschaftlichen Gefühl, das ihm eigen war, auf sein ver^
gangenes Leben zurückblicke», das lediglich dem Schein gewidmet war, das dar¬
stellt, was nicht war, und verbarg, was in ihm lag; man denke sich diese Be¬
trachtung erweitert durch einen Blick auf das Leben selbst, in dem er das Unrecht
des Rechtes, das Böse des Gute», das Häßliche des Schönen so tief durchdacht
hatte, man fasse diesen Blick in eine concentrirte Stimmung zusammen, und man
wird die Todtengräbersccue im Hamlet, das Nachtstück auf der Heide in Lear
zwischen den drei wirklichen und scheinbare» Wahnsinnigen, die Virtuosität, mit
der die dämonische Lust des Bösen z. B. in Jago ausgeführt ist, und die Ge¬
spräche zwischen den Lästerern Timon und Apemantnö — dieses Stück wird we¬
nigstens keiner für ein dramatisches Kunstwerk ausgeben — vollkommen begreiflich
finden. Aber man wird sich eines unheimlichen Gefühls nicht erwehren können,
indem man es begreift.

Es läßt sich diese Nachtseite der Shakespeareschen Poesie noch viel weiter
ausführen, doch muß ich hier abbrechen. Ich bemerke nur noch, daß er iivdieser Dar¬
stellung des Protestantismus einzig geblieben ist. Die Puritaner legten sogleich
Hand an's Werk, ihr Reich Gottes einzurichten, die deutschen Pietisten und My¬
stiker waren zu schwächlich und subjectiv, um überhaupt tief zu empfinden. Milton
legte das Problem des Bösen wieder ins Aeußerliche. Auch in dieser, bisher
noch wenig beachteten Richtung ist er ohne Gleichen.




Der dänische General Rye und der Kampf in Jütland )



Beim Beginn des Krieges von 48 war die dänische Armee keineswegs in gehörigem
Stande. In 34 Friedensjahren war es allgemeiner Glaube geworden, daß Däne-
Mark nie mehr in einen ernsten Krieg verwickelt werden könne. Der Militäretat



*) Die folgende Skizze ist uns von einem Dänen eingesandt worden. Wir theilen die¬
selbe gern mit, weil wir annehmen, base es unsern Lesern interessant sein muß, zu erfahren,
'vie das unbefangene Urtheil in Dänemark die Kriegführung der Preußen in Jütland belrach-
"'t. Ohne Zweifel werden wir einst eine militärische Kritik des verhängnißvollen Feldzugs er¬
halten, bis dahin ist's Pflicht der Tagespresse Alles mitzutheilen, was für die öffentliche Mei¬
nung in Deutschland maßgebend werden darf. Die Redaction hat in der letzten Nummer der
Grenzboten ihre Ueberzeugungen in Betreff des fatalen Waffenstillstandes offen ausgesprochen,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/263>, abgerufen am 05.02.2025.