Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

bis zum Moment, wo sie mit fortreißender Stärke herausbrechen; je großartiger
und detaillirter die Anschauungen und Empfindungen des Dichters sind, desto
kräftiger und stärker wird die Steigerung der Leidenschaft, je größer seine Bil¬
dungskraft, desto stärker wird die Concentration werden. Verschieden, wie die
Individualität der Dichter, ist auch die Methode ihrer Concentration. Am. gro߬
artigsten ist sie wieder bei Shakespeare. Scenen wie die Nacht der Ermordung
in Macbeth, die Bewerbung und Verbannung Coriolan's, der Mord Cäsar's,
die Verhörscene der Hütte im Lear, die Balkonscene im Romeo sind Meisterstücke
von Arbeit, weniger ihrer Effekte wegen, die Shakespeare selten sucht (im Lear
z. B. hat er's doch gethan), und die er in der Regel kühn und kurz hinwirft;
sondern der sehr detaillirten und sorgfältigen Vorbereitung wegen. Der psychische
Prozeß im Brutus, Othello, Lear, Romeo, Macbeth u. s. w. sind das Höchste
und Gewaltigste, was die Poesie je geschaffen hat. Die Größe hat kein Deutscher
erreicht, aber wir können bei Lessing, Schiller, Jffland und Kleist eine ähnliche
dramatische Gestaltungskraft in sehr verschiedener Weise wirken sehn, wenn man
sich die Mühe geben will, den Höhenpunkt im Nathan -- das Gespräch Rathaus
mit dem Kalifen -- mit der Scene zwischen Philipp und Posa in Don Karlos,
den Zank zwischen dem Oberförster, 'seiner Frau und seinem Sohn in den Jägern
und dem Besuch des Prinzen von Homburg bei der Kurfürstin zu vergleichen.
Die weise Ruhe Lessings, die wenig motivirende Pracht Schillers, die beschränkte
Tüchtigkeit Ifflands und die seltsame, springende Unruhe Kleist's treten in diesen
Theilen mächtig hervor. Eine gemeinsame Eigenthümlichkeit der dramatischen
Concentrationskraft bei unsern deutschen Dichtern ist die, daß die Affecte der
Hauptcharaktere, welche das Stück bis zu seinem Höhenpunkt hinaustreiben, nicht
gewaltig und rücksichtslos genug auftreten, um deu Charakter, das ganze Leben
der Individuen zu füllen und umzubilden. Was wir gern schildern, sind fest¬
geformte, fertige Menschen, bei denen weniger die Leidenschaft, mehr die Reflexion
oder das Behagen in eine bestimmte, verhängnißvolle Bahn treibt. Man vergleiche
Nathan, Tellheim, Egmont, Wallenstein, Tell, u. s. w. mit Othello, Lear, Mac¬
beth, Romeo. Das ist bei einer durch Lektüre und methodisches Denken "gebilde¬
ten" Nation natürlich, für die Kunst ist es kein Gewinn.

Als der schwierigste Theil des Dramas war oben die "Umkehr" genannt
worden, jene zweite Hälfte der Handlung, welche auf den Höhenpunkt der Mitte
folgt. Die Schwierigkeiten derselben sind leicht einzusehn. Bis zum Höhenpunkt
des Stückes war das Interesse des Zuschauers an die eingeschlagene Richtung der
Hauptcharaktere gefesselt. Nach der That tritt eine Pause ein. Die Spannung
des Zuschauers muß aufs Neue erregt werden, dazu müssen neue Kräfte, neue
Personen vorgeführt werden, oder doch in den Vordergrund treten, an denen er
Theilnahme erst gewinnen soll. Schon dadurch wird eine gewisse Zerstreuung und
Zersplitterung der Scenen oft unvermeidlich. Aber noch mehr, die Aufgabe die-


bis zum Moment, wo sie mit fortreißender Stärke herausbrechen; je großartiger
und detaillirter die Anschauungen und Empfindungen des Dichters sind, desto
kräftiger und stärker wird die Steigerung der Leidenschaft, je größer seine Bil¬
dungskraft, desto stärker wird die Concentration werden. Verschieden, wie die
Individualität der Dichter, ist auch die Methode ihrer Concentration. Am. gro߬
artigsten ist sie wieder bei Shakespeare. Scenen wie die Nacht der Ermordung
in Macbeth, die Bewerbung und Verbannung Coriolan's, der Mord Cäsar's,
die Verhörscene der Hütte im Lear, die Balkonscene im Romeo sind Meisterstücke
von Arbeit, weniger ihrer Effekte wegen, die Shakespeare selten sucht (im Lear
z. B. hat er's doch gethan), und die er in der Regel kühn und kurz hinwirft;
sondern der sehr detaillirten und sorgfältigen Vorbereitung wegen. Der psychische
Prozeß im Brutus, Othello, Lear, Romeo, Macbeth u. s. w. sind das Höchste
und Gewaltigste, was die Poesie je geschaffen hat. Die Größe hat kein Deutscher
erreicht, aber wir können bei Lessing, Schiller, Jffland und Kleist eine ähnliche
dramatische Gestaltungskraft in sehr verschiedener Weise wirken sehn, wenn man
sich die Mühe geben will, den Höhenpunkt im Nathan — das Gespräch Rathaus
mit dem Kalifen — mit der Scene zwischen Philipp und Posa in Don Karlos,
den Zank zwischen dem Oberförster, 'seiner Frau und seinem Sohn in den Jägern
und dem Besuch des Prinzen von Homburg bei der Kurfürstin zu vergleichen.
Die weise Ruhe Lessings, die wenig motivirende Pracht Schillers, die beschränkte
Tüchtigkeit Ifflands und die seltsame, springende Unruhe Kleist's treten in diesen
Theilen mächtig hervor. Eine gemeinsame Eigenthümlichkeit der dramatischen
Concentrationskraft bei unsern deutschen Dichtern ist die, daß die Affecte der
Hauptcharaktere, welche das Stück bis zu seinem Höhenpunkt hinaustreiben, nicht
gewaltig und rücksichtslos genug auftreten, um deu Charakter, das ganze Leben
der Individuen zu füllen und umzubilden. Was wir gern schildern, sind fest¬
geformte, fertige Menschen, bei denen weniger die Leidenschaft, mehr die Reflexion
oder das Behagen in eine bestimmte, verhängnißvolle Bahn treibt. Man vergleiche
Nathan, Tellheim, Egmont, Wallenstein, Tell, u. s. w. mit Othello, Lear, Mac¬
beth, Romeo. Das ist bei einer durch Lektüre und methodisches Denken „gebilde¬
ten" Nation natürlich, für die Kunst ist es kein Gewinn.

Als der schwierigste Theil des Dramas war oben die „Umkehr" genannt
worden, jene zweite Hälfte der Handlung, welche auf den Höhenpunkt der Mitte
folgt. Die Schwierigkeiten derselben sind leicht einzusehn. Bis zum Höhenpunkt
des Stückes war das Interesse des Zuschauers an die eingeschlagene Richtung der
Hauptcharaktere gefesselt. Nach der That tritt eine Pause ein. Die Spannung
des Zuschauers muß aufs Neue erregt werden, dazu müssen neue Kräfte, neue
Personen vorgeführt werden, oder doch in den Vordergrund treten, an denen er
Theilnahme erst gewinnen soll. Schon dadurch wird eine gewisse Zerstreuung und
Zersplitterung der Scenen oft unvermeidlich. Aber noch mehr, die Aufgabe die-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0026" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/279052"/>
          <p xml:id="ID_45" prev="#ID_44"> bis zum Moment, wo sie mit fortreißender Stärke herausbrechen; je großartiger<lb/>
und detaillirter die Anschauungen und Empfindungen des Dichters sind, desto<lb/>
kräftiger und stärker wird die Steigerung der Leidenschaft, je größer seine Bil¬<lb/>
dungskraft, desto stärker wird die Concentration werden. Verschieden, wie die<lb/>
Individualität der Dichter, ist auch die Methode ihrer Concentration. Am. gro߬<lb/>
artigsten ist sie wieder bei Shakespeare. Scenen wie die Nacht der Ermordung<lb/>
in Macbeth, die Bewerbung und Verbannung Coriolan's, der Mord Cäsar's,<lb/>
die Verhörscene der Hütte im Lear, die Balkonscene im Romeo sind Meisterstücke<lb/>
von Arbeit, weniger ihrer Effekte wegen, die Shakespeare selten sucht (im Lear<lb/>
z. B. hat er's doch gethan), und die er in der Regel kühn und kurz hinwirft;<lb/>
sondern der sehr detaillirten und sorgfältigen Vorbereitung wegen. Der psychische<lb/>
Prozeß im Brutus, Othello, Lear, Romeo, Macbeth u. s. w. sind das Höchste<lb/>
und Gewaltigste, was die Poesie je geschaffen hat. Die Größe hat kein Deutscher<lb/>
erreicht, aber wir können bei Lessing, Schiller, Jffland und Kleist eine ähnliche<lb/>
dramatische Gestaltungskraft in sehr verschiedener Weise wirken sehn, wenn man<lb/>
sich die Mühe geben will, den Höhenpunkt im Nathan &#x2014; das Gespräch Rathaus<lb/>
mit dem Kalifen &#x2014; mit der Scene zwischen Philipp und Posa in Don Karlos,<lb/>
den Zank zwischen dem Oberförster, 'seiner Frau und seinem Sohn in den Jägern<lb/>
und dem Besuch des Prinzen von Homburg bei der Kurfürstin zu vergleichen.<lb/>
Die weise Ruhe Lessings, die wenig motivirende Pracht Schillers, die beschränkte<lb/>
Tüchtigkeit Ifflands und die seltsame, springende Unruhe Kleist's treten in diesen<lb/>
Theilen mächtig hervor. Eine gemeinsame Eigenthümlichkeit der dramatischen<lb/>
Concentrationskraft bei unsern deutschen Dichtern ist die, daß die Affecte der<lb/>
Hauptcharaktere, welche das Stück bis zu seinem Höhenpunkt hinaustreiben, nicht<lb/>
gewaltig und rücksichtslos genug auftreten, um deu Charakter, das ganze Leben<lb/>
der Individuen zu füllen und umzubilden. Was wir gern schildern, sind fest¬<lb/>
geformte, fertige Menschen, bei denen weniger die Leidenschaft, mehr die Reflexion<lb/>
oder das Behagen in eine bestimmte, verhängnißvolle Bahn treibt. Man vergleiche<lb/>
Nathan, Tellheim, Egmont, Wallenstein, Tell, u. s. w. mit Othello, Lear, Mac¬<lb/>
beth, Romeo. Das ist bei einer durch Lektüre und methodisches Denken &#x201E;gebilde¬<lb/>
ten" Nation natürlich, für die Kunst ist es kein Gewinn.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_46" next="#ID_47"> Als der schwierigste Theil des Dramas war oben die &#x201E;Umkehr" genannt<lb/>
worden, jene zweite Hälfte der Handlung, welche auf den Höhenpunkt der Mitte<lb/>
folgt. Die Schwierigkeiten derselben sind leicht einzusehn. Bis zum Höhenpunkt<lb/>
des Stückes war das Interesse des Zuschauers an die eingeschlagene Richtung der<lb/>
Hauptcharaktere gefesselt. Nach der That tritt eine Pause ein. Die Spannung<lb/>
des Zuschauers muß aufs Neue erregt werden, dazu müssen neue Kräfte, neue<lb/>
Personen vorgeführt werden, oder doch in den Vordergrund treten, an denen er<lb/>
Theilnahme erst gewinnen soll. Schon dadurch wird eine gewisse Zerstreuung und<lb/>
Zersplitterung der Scenen oft unvermeidlich. Aber noch mehr, die Aufgabe die-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0026] bis zum Moment, wo sie mit fortreißender Stärke herausbrechen; je großartiger und detaillirter die Anschauungen und Empfindungen des Dichters sind, desto kräftiger und stärker wird die Steigerung der Leidenschaft, je größer seine Bil¬ dungskraft, desto stärker wird die Concentration werden. Verschieden, wie die Individualität der Dichter, ist auch die Methode ihrer Concentration. Am. gro߬ artigsten ist sie wieder bei Shakespeare. Scenen wie die Nacht der Ermordung in Macbeth, die Bewerbung und Verbannung Coriolan's, der Mord Cäsar's, die Verhörscene der Hütte im Lear, die Balkonscene im Romeo sind Meisterstücke von Arbeit, weniger ihrer Effekte wegen, die Shakespeare selten sucht (im Lear z. B. hat er's doch gethan), und die er in der Regel kühn und kurz hinwirft; sondern der sehr detaillirten und sorgfältigen Vorbereitung wegen. Der psychische Prozeß im Brutus, Othello, Lear, Romeo, Macbeth u. s. w. sind das Höchste und Gewaltigste, was die Poesie je geschaffen hat. Die Größe hat kein Deutscher erreicht, aber wir können bei Lessing, Schiller, Jffland und Kleist eine ähnliche dramatische Gestaltungskraft in sehr verschiedener Weise wirken sehn, wenn man sich die Mühe geben will, den Höhenpunkt im Nathan — das Gespräch Rathaus mit dem Kalifen — mit der Scene zwischen Philipp und Posa in Don Karlos, den Zank zwischen dem Oberförster, 'seiner Frau und seinem Sohn in den Jägern und dem Besuch des Prinzen von Homburg bei der Kurfürstin zu vergleichen. Die weise Ruhe Lessings, die wenig motivirende Pracht Schillers, die beschränkte Tüchtigkeit Ifflands und die seltsame, springende Unruhe Kleist's treten in diesen Theilen mächtig hervor. Eine gemeinsame Eigenthümlichkeit der dramatischen Concentrationskraft bei unsern deutschen Dichtern ist die, daß die Affecte der Hauptcharaktere, welche das Stück bis zu seinem Höhenpunkt hinaustreiben, nicht gewaltig und rücksichtslos genug auftreten, um deu Charakter, das ganze Leben der Individuen zu füllen und umzubilden. Was wir gern schildern, sind fest¬ geformte, fertige Menschen, bei denen weniger die Leidenschaft, mehr die Reflexion oder das Behagen in eine bestimmte, verhängnißvolle Bahn treibt. Man vergleiche Nathan, Tellheim, Egmont, Wallenstein, Tell, u. s. w. mit Othello, Lear, Mac¬ beth, Romeo. Das ist bei einer durch Lektüre und methodisches Denken „gebilde¬ ten" Nation natürlich, für die Kunst ist es kein Gewinn. Als der schwierigste Theil des Dramas war oben die „Umkehr" genannt worden, jene zweite Hälfte der Handlung, welche auf den Höhenpunkt der Mitte folgt. Die Schwierigkeiten derselben sind leicht einzusehn. Bis zum Höhenpunkt des Stückes war das Interesse des Zuschauers an die eingeschlagene Richtung der Hauptcharaktere gefesselt. Nach der That tritt eine Pause ein. Die Spannung des Zuschauers muß aufs Neue erregt werden, dazu müssen neue Kräfte, neue Personen vorgeführt werden, oder doch in den Vordergrund treten, an denen er Theilnahme erst gewinnen soll. Schon dadurch wird eine gewisse Zerstreuung und Zersplitterung der Scenen oft unvermeidlich. Aber noch mehr, die Aufgabe die-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/26
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/26>, abgerufen am 05.02.2025.