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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.

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den neuern deutschen Dichtern beobachtet hat? Ich komme auf das Einzelne bei
einer andern Gelegenheit zurück. Hier uur noch eine allgemeine Bemerkung.

Eine kritische Bearbeitung Shakespeares wird für die Entwicklung unserer
eignen Kunst uur dann vortheilhaft sein, wenn wir dasjenige, was dem Geschmack
und der Mode jeues Zeitalters, der Einrichtung des Theaters, oder auch geradezu
der Abhängigkeit von den vorgefundnen Quellen angehört, scharf hervorheben, und
überall nachweisen, wie unter den gegenwärtigen Verhältnissen die Aufgabe zu
fassen wäre. Gewinns stellt sich die entgegengesetzte Aufgabe. Es ist eine Apo¬
logie in edleren Sinn: der Nachweis, wie Alles was auf den ersten Augenblick
als Fehler aussieht, wenigstens seine wesentliche Begründung in irgend einem leicht
übersehenen Gesichtspunkt hat. Shakespeare ist allerdings unter allen Dichtern
derjenige, der eine solche Kritik am meisten verdient.

Es gibt noch einen dritten Standpunkt, den philosophisch-historischen, der
in Shakespeare nicht den einzelnen Dichter sieht, sondern den Ausdruck einer be¬
stimmten Weltbildung, der gegenüber das Interesse für die Persönlichkeit und selbst
der ästhetische Maaßstab theilweise verschwindet. Ich kann diesen Standpunkt hier
freilich nur flüchtig und im Umriß andeuten.




Shakespeare und seine Zeit.

Indem wir den Dichter in die Ferne zurückstellen, erweitert und verändert
sich die Perspective. Wir sehen ü< den bunten Bildern, ans denen wir unsere
eignen oder die allgemein menschlichen Schicksale herauszulesen pflegten, blos da¬
durch, daß jetzt ein anderes Licht ans sie fällt, und daß die Detailarbeit unsere
Aufmerksamkeit von dem großen Ganzen nicht mehr abzieht, den Titancnkampf
einer in sich selbst gewaltig ringenden Zeit dargestellt.

Es sind, wenn wir genauer zusehn, drei verschiedene Momente, drei Welt¬
formen, die unmittelbar vor und nach Shakespeare anseinandcrsielen, welche in
dieser Dichtung zwar nicht ihre Versöhnung, aber ihre bestimmte Beziehung zu
einander finden.

Das mittelalterliche Ritterthum mit seinen Liebesabenteuern und seiner katho¬
lischen Frivolität, das in den blutigen Kriegen der rothen und weißen Nose schein¬
bar vollständiger untergegangen war, als auf dem Kontinent, in der That aber in
dem großen normannischen Adel bis zu unsern Tagen wenigstens noch mehr Gel-
tung behauptet, als in irgend einer andern Nation.

Der finstere Geist des Pnritanismns, der, im folgenden Jahrhundert zur
Herrschaft berufen, seinen schwarzen Schatten bereits unheimlich über das Leben
der Gegenwart und die Seelen derer, welche ihr angehörten, ausbreitete.

In der Mitte die derbe Realität des sächsischen Bürgerthums, das sich Spa-


den neuern deutschen Dichtern beobachtet hat? Ich komme auf das Einzelne bei
einer andern Gelegenheit zurück. Hier uur noch eine allgemeine Bemerkung.

Eine kritische Bearbeitung Shakespeares wird für die Entwicklung unserer
eignen Kunst uur dann vortheilhaft sein, wenn wir dasjenige, was dem Geschmack
und der Mode jeues Zeitalters, der Einrichtung des Theaters, oder auch geradezu
der Abhängigkeit von den vorgefundnen Quellen angehört, scharf hervorheben, und
überall nachweisen, wie unter den gegenwärtigen Verhältnissen die Aufgabe zu
fassen wäre. Gewinns stellt sich die entgegengesetzte Aufgabe. Es ist eine Apo¬
logie in edleren Sinn: der Nachweis, wie Alles was auf den ersten Augenblick
als Fehler aussieht, wenigstens seine wesentliche Begründung in irgend einem leicht
übersehenen Gesichtspunkt hat. Shakespeare ist allerdings unter allen Dichtern
derjenige, der eine solche Kritik am meisten verdient.

Es gibt noch einen dritten Standpunkt, den philosophisch-historischen, der
in Shakespeare nicht den einzelnen Dichter sieht, sondern den Ausdruck einer be¬
stimmten Weltbildung, der gegenüber das Interesse für die Persönlichkeit und selbst
der ästhetische Maaßstab theilweise verschwindet. Ich kann diesen Standpunkt hier
freilich nur flüchtig und im Umriß andeuten.




Shakespeare und seine Zeit.

Indem wir den Dichter in die Ferne zurückstellen, erweitert und verändert
sich die Perspective. Wir sehen ü< den bunten Bildern, ans denen wir unsere
eignen oder die allgemein menschlichen Schicksale herauszulesen pflegten, blos da¬
durch, daß jetzt ein anderes Licht ans sie fällt, und daß die Detailarbeit unsere
Aufmerksamkeit von dem großen Ganzen nicht mehr abzieht, den Titancnkampf
einer in sich selbst gewaltig ringenden Zeit dargestellt.

Es sind, wenn wir genauer zusehn, drei verschiedene Momente, drei Welt¬
formen, die unmittelbar vor und nach Shakespeare anseinandcrsielen, welche in
dieser Dichtung zwar nicht ihre Versöhnung, aber ihre bestimmte Beziehung zu
einander finden.

Das mittelalterliche Ritterthum mit seinen Liebesabenteuern und seiner katho¬
lischen Frivolität, das in den blutigen Kriegen der rothen und weißen Nose schein¬
bar vollständiger untergegangen war, als auf dem Kontinent, in der That aber in
dem großen normannischen Adel bis zu unsern Tagen wenigstens noch mehr Gel-
tung behauptet, als in irgend einer andern Nation.

Der finstere Geist des Pnritanismns, der, im folgenden Jahrhundert zur
Herrschaft berufen, seinen schwarzen Schatten bereits unheimlich über das Leben
der Gegenwart und die Seelen derer, welche ihr angehörten, ausbreitete.

In der Mitte die derbe Realität des sächsischen Bürgerthums, das sich Spa-


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[0252] den neuern deutschen Dichtern beobachtet hat? Ich komme auf das Einzelne bei einer andern Gelegenheit zurück. Hier uur noch eine allgemeine Bemerkung. Eine kritische Bearbeitung Shakespeares wird für die Entwicklung unserer eignen Kunst uur dann vortheilhaft sein, wenn wir dasjenige, was dem Geschmack und der Mode jeues Zeitalters, der Einrichtung des Theaters, oder auch geradezu der Abhängigkeit von den vorgefundnen Quellen angehört, scharf hervorheben, und überall nachweisen, wie unter den gegenwärtigen Verhältnissen die Aufgabe zu fassen wäre. Gewinns stellt sich die entgegengesetzte Aufgabe. Es ist eine Apo¬ logie in edleren Sinn: der Nachweis, wie Alles was auf den ersten Augenblick als Fehler aussieht, wenigstens seine wesentliche Begründung in irgend einem leicht übersehenen Gesichtspunkt hat. Shakespeare ist allerdings unter allen Dichtern derjenige, der eine solche Kritik am meisten verdient. Es gibt noch einen dritten Standpunkt, den philosophisch-historischen, der in Shakespeare nicht den einzelnen Dichter sieht, sondern den Ausdruck einer be¬ stimmten Weltbildung, der gegenüber das Interesse für die Persönlichkeit und selbst der ästhetische Maaßstab theilweise verschwindet. Ich kann diesen Standpunkt hier freilich nur flüchtig und im Umriß andeuten. Shakespeare und seine Zeit. Indem wir den Dichter in die Ferne zurückstellen, erweitert und verändert sich die Perspective. Wir sehen ü< den bunten Bildern, ans denen wir unsere eignen oder die allgemein menschlichen Schicksale herauszulesen pflegten, blos da¬ durch, daß jetzt ein anderes Licht ans sie fällt, und daß die Detailarbeit unsere Aufmerksamkeit von dem großen Ganzen nicht mehr abzieht, den Titancnkampf einer in sich selbst gewaltig ringenden Zeit dargestellt. Es sind, wenn wir genauer zusehn, drei verschiedene Momente, drei Welt¬ formen, die unmittelbar vor und nach Shakespeare anseinandcrsielen, welche in dieser Dichtung zwar nicht ihre Versöhnung, aber ihre bestimmte Beziehung zu einander finden. Das mittelalterliche Ritterthum mit seinen Liebesabenteuern und seiner katho¬ lischen Frivolität, das in den blutigen Kriegen der rothen und weißen Nose schein¬ bar vollständiger untergegangen war, als auf dem Kontinent, in der That aber in dem großen normannischen Adel bis zu unsern Tagen wenigstens noch mehr Gel- tung behauptet, als in irgend einer andern Nation. Der finstere Geist des Pnritanismns, der, im folgenden Jahrhundert zur Herrschaft berufen, seinen schwarzen Schatten bereits unheimlich über das Leben der Gegenwart und die Seelen derer, welche ihr angehörten, ausbreitete. In der Mitte die derbe Realität des sächsischen Bürgerthums, das sich Spa-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/252>, abgerufen am 05.02.2025.