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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.

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Damit soll aber keineswegs gesagt sein, daß die philosophische Geschichtschrei--
dung in ihrer ersten Erscheinung ein Fortschritt gegen die pragmatische sei. Ab¬
gesehen von einzelnen geistvollen Umrissen, die Schelling gegeben hat, ist Hegel's
"Philosophie der Geschichte" bis jetzt das einzig bedeutende Werk der Art. Es
wird Niemand dies Buch aus der Hand gelegt haben, ohne durch deu großen
Blick des tiefen Denkens überrascht und gefördert zu sein, aber als Ganzes wird
es einen Kenner der Geschichte schwerlich befriedigen. So vielseitig die einzelnen
Gegenstände angeschaut werden, so drängt doch der logische Parallelismus überall
zu dem willkürlichen Hervorheben einer bestimmten Seite, um der Antithese willen,
und die vornehme Manier, mit den mühseligen Studien der Wissenschaft umzusprin¬
gen, als ob sich das alles von selbst verstünde, hat etwas Beleidigendes. Dazu
kommt, daß mitunter etwas Zweifelhaftes oder geradezu Falsches und Absurdes mit
derselben Sicherheit als ein Evangelium verkündet wird, wie die allgemein anerkannten
Thatsachen, und daß das Buch sich fortwährend die Miene gibt, seine Anschauun-
gen seien nicht positive", empirischen Studien entnommen, sondern der absoluten
Wissenschaft, dem System der Logik.

Ein Zeitalter philosophisch aufzufassen, d. h. als Totalität, ist nur derjenige
berechtigt, der es vorher mit pragmatischen Ernst studirt hat, der also über der
Lösung seiner Widersprüche die wirklichen Widersprüche nicht vergißt. Bei einem
Mangel an allgemeiner Bildung ist daher ein Versuch, die Geschichte nach philoso¬
phischen Gesichtspunkte" zu construiren, geradezu unerträglich, so z. B. die Einlei¬
tung zur Revolutionsgeschichte von Louis Blaue. Das begegnet dem Pragmatiker
nie; er wird nicht selten in der Lage sein, einer genialen Erscheinung gegenüber
sich philisterhaft zu gebärden, er wird, weil er dem Endliche" und Einzelnen zu
nahe tritt, bei. der falsche" Perspektive seines Standpunkts von den: Ganzen ein
wunderliches Bild geben, aber er wird sich nie ius Phantastische verlieren. Ein
gesundes, an politischen Ernst und Gewissenhaftigkeit gewöhntes Volk, wie das
britische, kennt keinen andern Standpunkt als den pragmatischen, während die
"euern Franzosen, Thiers und Lamartine nicht ausgenommen, in ihrer Art noch
ebenso naiv und novellistisch die Geschichte erzählen, als es früher Frvissart gethan.

Die vollste Berechtigung aber hat der pragmatische Gesichtspunkt, wenn die
Verkehrtheit der bisherigen Anschauungsweise eine unerbittliche, radikale Kritik
nothwendig macht. In diese", Sinn gebührt Gervinus eine wesentliche Stelle in
der Entwicklung unserer Literatur.

Wir würden seine "Geschichte der deutschen poetischen Nationalliteratur" nicht
richtig würdigen, wenn wir keinen andern Maßstab daran legten, als den histori-,
scher Vollendung. So groß die Gelehrsamkeit ist, die er darin entwickelt, so
reicht sie doch nicht ans, um überall, namentlich in den dunkleren Parthien unserer
Literatur, z" völlig sichern und abgeschlossenen Resultaten zu führen. Es ist ferner
ein gewaltsames Verfahren, gerade in Dentschland, die poetische Literatur von der


Damit soll aber keineswegs gesagt sein, daß die philosophische Geschichtschrei--
dung in ihrer ersten Erscheinung ein Fortschritt gegen die pragmatische sei. Ab¬
gesehen von einzelnen geistvollen Umrissen, die Schelling gegeben hat, ist Hegel's
„Philosophie der Geschichte" bis jetzt das einzig bedeutende Werk der Art. Es
wird Niemand dies Buch aus der Hand gelegt haben, ohne durch deu großen
Blick des tiefen Denkens überrascht und gefördert zu sein, aber als Ganzes wird
es einen Kenner der Geschichte schwerlich befriedigen. So vielseitig die einzelnen
Gegenstände angeschaut werden, so drängt doch der logische Parallelismus überall
zu dem willkürlichen Hervorheben einer bestimmten Seite, um der Antithese willen,
und die vornehme Manier, mit den mühseligen Studien der Wissenschaft umzusprin¬
gen, als ob sich das alles von selbst verstünde, hat etwas Beleidigendes. Dazu
kommt, daß mitunter etwas Zweifelhaftes oder geradezu Falsches und Absurdes mit
derselben Sicherheit als ein Evangelium verkündet wird, wie die allgemein anerkannten
Thatsachen, und daß das Buch sich fortwährend die Miene gibt, seine Anschauun-
gen seien nicht positive», empirischen Studien entnommen, sondern der absoluten
Wissenschaft, dem System der Logik.

Ein Zeitalter philosophisch aufzufassen, d. h. als Totalität, ist nur derjenige
berechtigt, der es vorher mit pragmatischen Ernst studirt hat, der also über der
Lösung seiner Widersprüche die wirklichen Widersprüche nicht vergißt. Bei einem
Mangel an allgemeiner Bildung ist daher ein Versuch, die Geschichte nach philoso¬
phischen Gesichtspunkte» zu construiren, geradezu unerträglich, so z. B. die Einlei¬
tung zur Revolutionsgeschichte von Louis Blaue. Das begegnet dem Pragmatiker
nie; er wird nicht selten in der Lage sein, einer genialen Erscheinung gegenüber
sich philisterhaft zu gebärden, er wird, weil er dem Endliche» und Einzelnen zu
nahe tritt, bei. der falsche» Perspektive seines Standpunkts von den: Ganzen ein
wunderliches Bild geben, aber er wird sich nie ius Phantastische verlieren. Ein
gesundes, an politischen Ernst und Gewissenhaftigkeit gewöhntes Volk, wie das
britische, kennt keinen andern Standpunkt als den pragmatischen, während die
»euern Franzosen, Thiers und Lamartine nicht ausgenommen, in ihrer Art noch
ebenso naiv und novellistisch die Geschichte erzählen, als es früher Frvissart gethan.

Die vollste Berechtigung aber hat der pragmatische Gesichtspunkt, wenn die
Verkehrtheit der bisherigen Anschauungsweise eine unerbittliche, radikale Kritik
nothwendig macht. In diese», Sinn gebührt Gervinus eine wesentliche Stelle in
der Entwicklung unserer Literatur.

Wir würden seine „Geschichte der deutschen poetischen Nationalliteratur" nicht
richtig würdigen, wenn wir keinen andern Maßstab daran legten, als den histori-,
scher Vollendung. So groß die Gelehrsamkeit ist, die er darin entwickelt, so
reicht sie doch nicht ans, um überall, namentlich in den dunkleren Parthien unserer
Literatur, z„ völlig sichern und abgeschlossenen Resultaten zu führen. Es ist ferner
ein gewaltsames Verfahren, gerade in Dentschland, die poetische Literatur von der


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[0245] Damit soll aber keineswegs gesagt sein, daß die philosophische Geschichtschrei-- dung in ihrer ersten Erscheinung ein Fortschritt gegen die pragmatische sei. Ab¬ gesehen von einzelnen geistvollen Umrissen, die Schelling gegeben hat, ist Hegel's „Philosophie der Geschichte" bis jetzt das einzig bedeutende Werk der Art. Es wird Niemand dies Buch aus der Hand gelegt haben, ohne durch deu großen Blick des tiefen Denkens überrascht und gefördert zu sein, aber als Ganzes wird es einen Kenner der Geschichte schwerlich befriedigen. So vielseitig die einzelnen Gegenstände angeschaut werden, so drängt doch der logische Parallelismus überall zu dem willkürlichen Hervorheben einer bestimmten Seite, um der Antithese willen, und die vornehme Manier, mit den mühseligen Studien der Wissenschaft umzusprin¬ gen, als ob sich das alles von selbst verstünde, hat etwas Beleidigendes. Dazu kommt, daß mitunter etwas Zweifelhaftes oder geradezu Falsches und Absurdes mit derselben Sicherheit als ein Evangelium verkündet wird, wie die allgemein anerkannten Thatsachen, und daß das Buch sich fortwährend die Miene gibt, seine Anschauun- gen seien nicht positive», empirischen Studien entnommen, sondern der absoluten Wissenschaft, dem System der Logik. Ein Zeitalter philosophisch aufzufassen, d. h. als Totalität, ist nur derjenige berechtigt, der es vorher mit pragmatischen Ernst studirt hat, der also über der Lösung seiner Widersprüche die wirklichen Widersprüche nicht vergißt. Bei einem Mangel an allgemeiner Bildung ist daher ein Versuch, die Geschichte nach philoso¬ phischen Gesichtspunkte» zu construiren, geradezu unerträglich, so z. B. die Einlei¬ tung zur Revolutionsgeschichte von Louis Blaue. Das begegnet dem Pragmatiker nie; er wird nicht selten in der Lage sein, einer genialen Erscheinung gegenüber sich philisterhaft zu gebärden, er wird, weil er dem Endliche» und Einzelnen zu nahe tritt, bei. der falsche» Perspektive seines Standpunkts von den: Ganzen ein wunderliches Bild geben, aber er wird sich nie ius Phantastische verlieren. Ein gesundes, an politischen Ernst und Gewissenhaftigkeit gewöhntes Volk, wie das britische, kennt keinen andern Standpunkt als den pragmatischen, während die »euern Franzosen, Thiers und Lamartine nicht ausgenommen, in ihrer Art noch ebenso naiv und novellistisch die Geschichte erzählen, als es früher Frvissart gethan. Die vollste Berechtigung aber hat der pragmatische Gesichtspunkt, wenn die Verkehrtheit der bisherigen Anschauungsweise eine unerbittliche, radikale Kritik nothwendig macht. In diese», Sinn gebührt Gervinus eine wesentliche Stelle in der Entwicklung unserer Literatur. Wir würden seine „Geschichte der deutschen poetischen Nationalliteratur" nicht richtig würdigen, wenn wir keinen andern Maßstab daran legten, als den histori-, scher Vollendung. So groß die Gelehrsamkeit ist, die er darin entwickelt, so reicht sie doch nicht ans, um überall, namentlich in den dunkleren Parthien unserer Literatur, z„ völlig sichern und abgeschlossenen Resultaten zu führen. Es ist ferner ein gewaltsames Verfahren, gerade in Dentschland, die poetische Literatur von der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/245>, abgerufen am 05.02.2025.