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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.

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bricht das treibende Moment, welches in dem Aerger des alten Handelsherrn über
seine Familie liegt, sehr ungeschickt dem Haupthelden Cäsar gegenüber erst in der
Mitte des Stückes heraus. Dadurch wird die Einleitung des Stückes drei Akte
lang und wo das dramatische Leben anfangen soll, bei der psychologischen Verän¬
derung des Sohns, da ist nur noch Raum für sehr schwache novellistische Skizzen.

Die zweite Klippe, an welcher mancher Bau in dramatischer Form scheitert,
ist die Concentration des Stückes in der Mitte. Wenn ein Bühnenstück dritte¬
halb bis drei Stunden die gespannte Aufmerksamkeit eines oft zerstreuten Publi¬
kums in Anspruch nehmen will, so darf es der Negel nach nicht aus Fäden zusam¬
mengesetzt sein, welche neben einander herlaufen und sich in der Katastrophe ver¬
binden, sondern es muß, bildlich dargestellt aus zwei Linien bestehe", welche in
einem spitzen Winkel aus einander laufen, von denen die eine den steigenden Theil
der Handlung, die zweite die "Umkehr" darstellt. Der Höhenpunkt der Handlung,
welcher so ziemlich in die Mitte des Stückes fällt, ist wie wir gesehn haben, der
Moment, wo die Leidenschaft der Hauptpersonen sich in einer starken That zusam¬
menfaßt, welche als Verhängniß auf sie und ihre Mithandelnden fortzuwirken hat.
Das poetische Schaffen ist bis zu diesem Augenblick vorzugsweise eine psychologische
Darstellung der innern Veränderungen, welche in der Seele der Helden vorgehn
müsse", um die That glaublich und nothwendig zu machen. Was bis dahin im
Stücke geschieht, dient fast Alles dazu, die Helden i" der, durch das ""regende
Moment geöffneten Bahn vorwärts zu treiben, und die Metamorphose ihres In¬
nern bis zum Augenblick der That zu motiviren. Soll ich erst sagen, daß das,
was hier That genannt ist, nicht nothwendig eine Action mit Händen und Füße",
ein Mord, el" Raub oder etwas Aehnliches sein muß? Das Aussprechen eines
großen Gefühls kann eben so sehr eine dramatische That sein. Die Hauptsache
ist, daß die hohe Spannung des Individuums sich kräftig lösen, und das Resul¬
tat derselben cffectuell heraustreten muß. Lyrische und epische Dichternatnren ha¬
ben selten das Glück ihren Stoff aus diese Weise im Innern ihrer Heldenper-
svnen zusammenschließen und binden zu könne", und deshalb siud die deutschen
Bühueiistücke so selten wirksam, d. h., gut.

Deu Dichtern mit epischer Begabung ist der Zusammenhang der Bege¬
benheit das Jnteressanteste, und deshalb trete" i" ihrer Phantasie die Personen des
Stückes nicht als souveräne Charaktere hervor, souderu sie erscheinen als einseitige
Theilnehmer an der gemeinsamen Handlung, viel mehr durch das Ganze der Be¬
gebenheit fortgetrieben, als dieselbe aus sich heraus entwickelnd. Daraus sind
zwei auffallende Erscheinungen bei neuen deutschen und manchen französischen Dra-
men erklärbar, erstens daß die dramatische Verbindung der einzelnen Scenen eine
lockere ist und die Wirkung der Scenen in dem Staunen oder Behagen beruht,
welches der jezcitige Zustand, die Lage der Helden hervorbringt (SitnationS-
malerei), und zweitens, daß die Haupthelden dnrch das ganze Stück nicht sowohl


bricht das treibende Moment, welches in dem Aerger des alten Handelsherrn über
seine Familie liegt, sehr ungeschickt dem Haupthelden Cäsar gegenüber erst in der
Mitte des Stückes heraus. Dadurch wird die Einleitung des Stückes drei Akte
lang und wo das dramatische Leben anfangen soll, bei der psychologischen Verän¬
derung des Sohns, da ist nur noch Raum für sehr schwache novellistische Skizzen.

Die zweite Klippe, an welcher mancher Bau in dramatischer Form scheitert,
ist die Concentration des Stückes in der Mitte. Wenn ein Bühnenstück dritte¬
halb bis drei Stunden die gespannte Aufmerksamkeit eines oft zerstreuten Publi¬
kums in Anspruch nehmen will, so darf es der Negel nach nicht aus Fäden zusam¬
mengesetzt sein, welche neben einander herlaufen und sich in der Katastrophe ver¬
binden, sondern es muß, bildlich dargestellt aus zwei Linien bestehe», welche in
einem spitzen Winkel aus einander laufen, von denen die eine den steigenden Theil
der Handlung, die zweite die „Umkehr" darstellt. Der Höhenpunkt der Handlung,
welcher so ziemlich in die Mitte des Stückes fällt, ist wie wir gesehn haben, der
Moment, wo die Leidenschaft der Hauptpersonen sich in einer starken That zusam¬
menfaßt, welche als Verhängniß auf sie und ihre Mithandelnden fortzuwirken hat.
Das poetische Schaffen ist bis zu diesem Augenblick vorzugsweise eine psychologische
Darstellung der innern Veränderungen, welche in der Seele der Helden vorgehn
müsse», um die That glaublich und nothwendig zu machen. Was bis dahin im
Stücke geschieht, dient fast Alles dazu, die Helden i» der, durch das «»regende
Moment geöffneten Bahn vorwärts zu treiben, und die Metamorphose ihres In¬
nern bis zum Augenblick der That zu motiviren. Soll ich erst sagen, daß das,
was hier That genannt ist, nicht nothwendig eine Action mit Händen und Füße»,
ein Mord, el» Raub oder etwas Aehnliches sein muß? Das Aussprechen eines
großen Gefühls kann eben so sehr eine dramatische That sein. Die Hauptsache
ist, daß die hohe Spannung des Individuums sich kräftig lösen, und das Resul¬
tat derselben cffectuell heraustreten muß. Lyrische und epische Dichternatnren ha¬
ben selten das Glück ihren Stoff aus diese Weise im Innern ihrer Heldenper-
svnen zusammenschließen und binden zu könne», und deshalb siud die deutschen
Bühueiistücke so selten wirksam, d. h., gut.

Deu Dichtern mit epischer Begabung ist der Zusammenhang der Bege¬
benheit das Jnteressanteste, und deshalb trete» i» ihrer Phantasie die Personen des
Stückes nicht als souveräne Charaktere hervor, souderu sie erscheinen als einseitige
Theilnehmer an der gemeinsamen Handlung, viel mehr durch das Ganze der Be¬
gebenheit fortgetrieben, als dieselbe aus sich heraus entwickelnd. Daraus sind
zwei auffallende Erscheinungen bei neuen deutschen und manchen französischen Dra-
men erklärbar, erstens daß die dramatische Verbindung der einzelnen Scenen eine
lockere ist und die Wirkung der Scenen in dem Staunen oder Behagen beruht,
welches der jezcitige Zustand, die Lage der Helden hervorbringt (SitnationS-
malerei), und zweitens, daß die Haupthelden dnrch das ganze Stück nicht sowohl


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/23>, abgerufen am 05.02.2025.