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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.

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worden ist, bei seiner dramatischen Entwicklung die Grundfarbe des Stückes trägt,
und je nach dieser, Grauen, bange Furcht, heitere Laune :c. erregt.

Wenn hier wieder die meisten Beispiele ans Shakespeare genommen werden,
so sei auch bemerkt, daß Shakespeare noch mehr Ursache hatte, durch starke Reiz¬
mittel in den Einleitungsscenen zu spannen, weil sein Publikum viel unruhiger
und aufgeregter war, als das unsrige, und schwer zu Ruhe und Aufmerksamkeit
kam. Er versteht deshalb durch kurze, starke Schläge aus die Seelen der Zuhörer
dieselben sich zu unterwerfen. Im Hamlet ist es die nächtliche Ablösung der Wa¬
chen auf der Terrasse, die soldatischen Comandoworte, der Rapport über das Er¬
scheinen des Geistes, welche Aufmerksamkeit erzwingen und zu gleicher Zeit das
aufregende Moment des Stückes, die Unterhaltung Hamlets mit dem Geist vor¬
bereiten. Dies Motiv selbst gibt dem ganzen Stück seine Farbe und Haltung.
Eben so ist es in Macbeth, die kurze Hexenscene auf öder Haide nach dem Auf¬
gehn des Vorhangs wiederholt sich in dem erregenden Moment des Stückes, in
der Unterhaltung der Feldherrn mit denselben Hexen, und das Grauen, welches
ans dieser Unterhaltung in die Seelen der Zuhörer rieselt, gibt die Grundstim-
mung für die gesammte Tragödie. Ebenso im Romeo, im Lear, im Conolan und
in deu übrigen regelrechten Dramen des großen Dichters, welcher es liebt, das
erregende Moment seiner Stücke mit genialer Kühnheit, ohne lange Auseiuauder-
schungeu hervorspringen zu lassen. Er hatte ein gläubiges Publikum, welches
einmal angespannt, sich mit naiver Frische von dem Zauber der dargestellten Welt
fassen ließ, und deshalb war es für ihn Nebensache dies Moment weitläufig zu
motiviren. Daß Lear, der Greis den kindischen Gedanken hat, die Liebe seiner
Töchter nach ihren officiellen Redensarten zu messen und wieder die Heftigkeit, nach
dem Eindruck, welche ihre Worte auf ihn machen, ihre und seine Zukunft zu be¬
stimmen, das ist dem englischen Dichter eine Thatsache, vor welcher er seinem
Publikum gegenüber ausgehn konnte, ohne sie weiter psychologisch zu erklären.
Wir Deutsche würden das niemals wagen. Bei uus siud die Expositionen in der
Regel weitläufig und die deutsche Gründlichkeit zeigt sich, nicht immer zum Bor¬
theil für das Stück, auch darin, daß wir schon im Anfange stark motiviren. Am
geistreichsten ist auch hierin Lessing. Seine Einleitung zum Nathan ist ein Mei¬
sterstück. Göthe und Schiller liebten ebenfalls ausführliche Expositioueu, Die beste
von Göthe ist die Bolksscene im Egmont; allein Göthes Stücke haben fast alle
den großen Mangel, daß ihnen ein starkes erregendes Moment fehlt, oder daß
er, wo dies vorhanden ist, wie z. B. die Erscheinung des Mephistopheles in Faust's
Schreibstube, dasselbe nicht schnell genug bringt. Schiller ist ihm darin bei weitem
überlege", z. B. im Teil, der Stuart, dem Karlos. Sicherer aber und anspruchs¬
loser als Beide weiß Jffland dies Moment zu finden. Bon den neusten Dichtern
ist Gustow am geschicktesten in guten Anfängen, so ist z. B. die Einleitung in
eins seiner schwächsten Stücke, "die Schule der Reichen" ganz vortrefflich, nur


worden ist, bei seiner dramatischen Entwicklung die Grundfarbe des Stückes trägt,
und je nach dieser, Grauen, bange Furcht, heitere Laune :c. erregt.

Wenn hier wieder die meisten Beispiele ans Shakespeare genommen werden,
so sei auch bemerkt, daß Shakespeare noch mehr Ursache hatte, durch starke Reiz¬
mittel in den Einleitungsscenen zu spannen, weil sein Publikum viel unruhiger
und aufgeregter war, als das unsrige, und schwer zu Ruhe und Aufmerksamkeit
kam. Er versteht deshalb durch kurze, starke Schläge aus die Seelen der Zuhörer
dieselben sich zu unterwerfen. Im Hamlet ist es die nächtliche Ablösung der Wa¬
chen auf der Terrasse, die soldatischen Comandoworte, der Rapport über das Er¬
scheinen des Geistes, welche Aufmerksamkeit erzwingen und zu gleicher Zeit das
aufregende Moment des Stückes, die Unterhaltung Hamlets mit dem Geist vor¬
bereiten. Dies Motiv selbst gibt dem ganzen Stück seine Farbe und Haltung.
Eben so ist es in Macbeth, die kurze Hexenscene auf öder Haide nach dem Auf¬
gehn des Vorhangs wiederholt sich in dem erregenden Moment des Stückes, in
der Unterhaltung der Feldherrn mit denselben Hexen, und das Grauen, welches
ans dieser Unterhaltung in die Seelen der Zuhörer rieselt, gibt die Grundstim-
mung für die gesammte Tragödie. Ebenso im Romeo, im Lear, im Conolan und
in deu übrigen regelrechten Dramen des großen Dichters, welcher es liebt, das
erregende Moment seiner Stücke mit genialer Kühnheit, ohne lange Auseiuauder-
schungeu hervorspringen zu lassen. Er hatte ein gläubiges Publikum, welches
einmal angespannt, sich mit naiver Frische von dem Zauber der dargestellten Welt
fassen ließ, und deshalb war es für ihn Nebensache dies Moment weitläufig zu
motiviren. Daß Lear, der Greis den kindischen Gedanken hat, die Liebe seiner
Töchter nach ihren officiellen Redensarten zu messen und wieder die Heftigkeit, nach
dem Eindruck, welche ihre Worte auf ihn machen, ihre und seine Zukunft zu be¬
stimmen, das ist dem englischen Dichter eine Thatsache, vor welcher er seinem
Publikum gegenüber ausgehn konnte, ohne sie weiter psychologisch zu erklären.
Wir Deutsche würden das niemals wagen. Bei uus siud die Expositionen in der
Regel weitläufig und die deutsche Gründlichkeit zeigt sich, nicht immer zum Bor¬
theil für das Stück, auch darin, daß wir schon im Anfange stark motiviren. Am
geistreichsten ist auch hierin Lessing. Seine Einleitung zum Nathan ist ein Mei¬
sterstück. Göthe und Schiller liebten ebenfalls ausführliche Expositioueu, Die beste
von Göthe ist die Bolksscene im Egmont; allein Göthes Stücke haben fast alle
den großen Mangel, daß ihnen ein starkes erregendes Moment fehlt, oder daß
er, wo dies vorhanden ist, wie z. B. die Erscheinung des Mephistopheles in Faust's
Schreibstube, dasselbe nicht schnell genug bringt. Schiller ist ihm darin bei weitem
überlege», z. B. im Teil, der Stuart, dem Karlos. Sicherer aber und anspruchs¬
loser als Beide weiß Jffland dies Moment zu finden. Bon den neusten Dichtern
ist Gustow am geschicktesten in guten Anfängen, so ist z. B. die Einleitung in
eins seiner schwächsten Stücke, „die Schule der Reichen" ganz vortrefflich, nur


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/22>, abgerufen am 05.02.2025.