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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.

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nicht besser geschickt habe, und ein Kritiker (ich glaube Forchhammer), hat unum¬
stößlich nachgewiesen, daß Sokrates ein reactionärer Verschwörer gegen das demo-
kratische Grundgesetz seiner Vaterstadt gewesen sei und daher mit Fug und Recht
den Schierlingsbecher getrunken habe.

Wenn ich also von Goethe behaupte, er habe mit vollem Bewußtsein sein
Princip der subjectiven Freiheit im Leben wie in der Dichtung verfolgt, und die
moderne Kritik habe die Pflicht, diesen Gegensatz so scharf als möglich hervorzu¬
heben, so erweise ich ihm damit eine Ehre. Wenn wir seine Werke vom Stand-
Punkt der reinen Aesthetik betrachten, so wird vielleicht kein einziges als vollkom¬
men musterhaft ans dieser Kritik hervvrgch"; betrachten wir sie aber als Ausdrücke
eines zwar einseitigen, aber relativ höchst berechtigten sittlichen Princips, so treten
sie wieder in ihre alte Bedeutung zurück.




Der Verfasser möge mir verzeihen, daß ich sein Werk nur als Veranlassung
betrachtet habe, einen Beitrag zu dem Verständniß Goethes vom Standpunkt un¬
serer Bildung aus zu liefern. Wer sich für den Dichter interessirt, wird in diesen
fleißigen, mit großer Sorgfalt und Unbefangenheit fortgeführten Studien eine
reiche Quelle der Belehrung finden. Ich hebe nur die eine Abhandlung über
Werther hervor, weil sich an sie eine weitere Bemerkung anknüpft.

ES ergibt sich nämlich ans dieser sehr gründlichen Analyse, daß der Roman,
welcher unter allen am meisten als ein freies Werk jugendlicher Schöpfungskraft
erscheint, eigentlich nichts anderes ist, als eine Nachbildung wirklicher Verhältnisse,
zwischen dem Dichter und der wirklichen Lotte und zwischen dem jungen Jerusa¬
lem und einer andern Dame. Die Nachbildung hat sich zuweilen so treu an das
Original gehalten, daß bei dem Erscheine" Werther's von Seiten der Familie
lebhafte Nemonstrationen erfolgten.

Im ersten Augenblicke macht eine solche Section in deu Organismus der
Dichtung eine" unheimlichen Eindruck. ES sieht so aus, als ob mau uicht mehr
mit Uttbefaugener Freude und Hingebung sich einer schönen Gestalt würde nahen
können, in deren Inneres man einmal geblickt. Bei näherer Betrachtung verliert
sich aber diese Furcht. Die Dichtung kann doch in ihrem wesentlichen Kern nichts
anderes sein, als eine Idealisirung des Wirklichen. Die Empfindung, Stimmung
u. s. w., die der Dichter schildert, muß er wirklich empfunden, oder wenigstens
nachempfunden haben; es kommt uur darauf an, für eine Reihe von Stimmungen
den gleichmäßigen, dem erstrebten Eindruck entsprechenden Ton und die lebendige
Gestalt, oder wenn man will, deu ideellen Zusammenhang zu finden. Nur
das macht den Dichter. Wenn Goethe die Empfindung, die er seinem idealen
Helden leiht, unmittelbar der Natur entnehmen durfte, so hat er dem Glück zu


Grenzboten, l". 1349. 27

nicht besser geschickt habe, und ein Kritiker (ich glaube Forchhammer), hat unum¬
stößlich nachgewiesen, daß Sokrates ein reactionärer Verschwörer gegen das demo-
kratische Grundgesetz seiner Vaterstadt gewesen sei und daher mit Fug und Recht
den Schierlingsbecher getrunken habe.

Wenn ich also von Goethe behaupte, er habe mit vollem Bewußtsein sein
Princip der subjectiven Freiheit im Leben wie in der Dichtung verfolgt, und die
moderne Kritik habe die Pflicht, diesen Gegensatz so scharf als möglich hervorzu¬
heben, so erweise ich ihm damit eine Ehre. Wenn wir seine Werke vom Stand-
Punkt der reinen Aesthetik betrachten, so wird vielleicht kein einziges als vollkom¬
men musterhaft ans dieser Kritik hervvrgch»; betrachten wir sie aber als Ausdrücke
eines zwar einseitigen, aber relativ höchst berechtigten sittlichen Princips, so treten
sie wieder in ihre alte Bedeutung zurück.




Der Verfasser möge mir verzeihen, daß ich sein Werk nur als Veranlassung
betrachtet habe, einen Beitrag zu dem Verständniß Goethes vom Standpunkt un¬
serer Bildung aus zu liefern. Wer sich für den Dichter interessirt, wird in diesen
fleißigen, mit großer Sorgfalt und Unbefangenheit fortgeführten Studien eine
reiche Quelle der Belehrung finden. Ich hebe nur die eine Abhandlung über
Werther hervor, weil sich an sie eine weitere Bemerkung anknüpft.

ES ergibt sich nämlich ans dieser sehr gründlichen Analyse, daß der Roman,
welcher unter allen am meisten als ein freies Werk jugendlicher Schöpfungskraft
erscheint, eigentlich nichts anderes ist, als eine Nachbildung wirklicher Verhältnisse,
zwischen dem Dichter und der wirklichen Lotte und zwischen dem jungen Jerusa¬
lem und einer andern Dame. Die Nachbildung hat sich zuweilen so treu an das
Original gehalten, daß bei dem Erscheine» Werther's von Seiten der Familie
lebhafte Nemonstrationen erfolgten.

Im ersten Augenblicke macht eine solche Section in deu Organismus der
Dichtung eine» unheimlichen Eindruck. ES sieht so aus, als ob mau uicht mehr
mit Uttbefaugener Freude und Hingebung sich einer schönen Gestalt würde nahen
können, in deren Inneres man einmal geblickt. Bei näherer Betrachtung verliert
sich aber diese Furcht. Die Dichtung kann doch in ihrem wesentlichen Kern nichts
anderes sein, als eine Idealisirung des Wirklichen. Die Empfindung, Stimmung
u. s. w., die der Dichter schildert, muß er wirklich empfunden, oder wenigstens
nachempfunden haben; es kommt uur darauf an, für eine Reihe von Stimmungen
den gleichmäßigen, dem erstrebten Eindruck entsprechenden Ton und die lebendige
Gestalt, oder wenn man will, deu ideellen Zusammenhang zu finden. Nur
das macht den Dichter. Wenn Goethe die Empfindung, die er seinem idealen
Helden leiht, unmittelbar der Natur entnehmen durfte, so hat er dem Glück zu


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[0213] nicht besser geschickt habe, und ein Kritiker (ich glaube Forchhammer), hat unum¬ stößlich nachgewiesen, daß Sokrates ein reactionärer Verschwörer gegen das demo- kratische Grundgesetz seiner Vaterstadt gewesen sei und daher mit Fug und Recht den Schierlingsbecher getrunken habe. Wenn ich also von Goethe behaupte, er habe mit vollem Bewußtsein sein Princip der subjectiven Freiheit im Leben wie in der Dichtung verfolgt, und die moderne Kritik habe die Pflicht, diesen Gegensatz so scharf als möglich hervorzu¬ heben, so erweise ich ihm damit eine Ehre. Wenn wir seine Werke vom Stand- Punkt der reinen Aesthetik betrachten, so wird vielleicht kein einziges als vollkom¬ men musterhaft ans dieser Kritik hervvrgch»; betrachten wir sie aber als Ausdrücke eines zwar einseitigen, aber relativ höchst berechtigten sittlichen Princips, so treten sie wieder in ihre alte Bedeutung zurück. Der Verfasser möge mir verzeihen, daß ich sein Werk nur als Veranlassung betrachtet habe, einen Beitrag zu dem Verständniß Goethes vom Standpunkt un¬ serer Bildung aus zu liefern. Wer sich für den Dichter interessirt, wird in diesen fleißigen, mit großer Sorgfalt und Unbefangenheit fortgeführten Studien eine reiche Quelle der Belehrung finden. Ich hebe nur die eine Abhandlung über Werther hervor, weil sich an sie eine weitere Bemerkung anknüpft. ES ergibt sich nämlich ans dieser sehr gründlichen Analyse, daß der Roman, welcher unter allen am meisten als ein freies Werk jugendlicher Schöpfungskraft erscheint, eigentlich nichts anderes ist, als eine Nachbildung wirklicher Verhältnisse, zwischen dem Dichter und der wirklichen Lotte und zwischen dem jungen Jerusa¬ lem und einer andern Dame. Die Nachbildung hat sich zuweilen so treu an das Original gehalten, daß bei dem Erscheine» Werther's von Seiten der Familie lebhafte Nemonstrationen erfolgten. Im ersten Augenblicke macht eine solche Section in deu Organismus der Dichtung eine» unheimlichen Eindruck. ES sieht so aus, als ob mau uicht mehr mit Uttbefaugener Freude und Hingebung sich einer schönen Gestalt würde nahen können, in deren Inneres man einmal geblickt. Bei näherer Betrachtung verliert sich aber diese Furcht. Die Dichtung kann doch in ihrem wesentlichen Kern nichts anderes sein, als eine Idealisirung des Wirklichen. Die Empfindung, Stimmung u. s. w., die der Dichter schildert, muß er wirklich empfunden, oder wenigstens nachempfunden haben; es kommt uur darauf an, für eine Reihe von Stimmungen den gleichmäßigen, dem erstrebten Eindruck entsprechenden Ton und die lebendige Gestalt, oder wenn man will, deu ideellen Zusammenhang zu finden. Nur das macht den Dichter. Wenn Goethe die Empfindung, die er seinem idealen Helden leiht, unmittelbar der Natur entnehmen durfte, so hat er dem Glück zu Grenzboten, l». 1349. 27

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/213>, abgerufen am 05.02.2025.