Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

die nur getrieben werden kann, nicht blos einen Willen, sondern sogar einen sou¬
veränen Willen verlieh; eine Fiction, die beiläufig noch immer die Idee des kon¬
stitutionellen Staates verwirrt.

Aber die Volkssouveränität hat eine andere, höhere Bedeutung, die zugleich
den wesentlichen Inhalt unsers Glaubens ausmacht: daß nämlich der Mensch seinen
vollen Werth erst als Bürger hat, als integrirendes Glied einer sittlichen Ge¬
meinschaft, deren Inhalt er in sich weiß und fühlt. In diesem souveränen Staat,
namentlich in der ersten Form seiner Erscheinung, als streitende Kirche, findet die
"menschliche" Freiheit, wie sie Werther, Götz, Faust, Meister, Herrmann, Eduard
und Goethe für sich fordern, keinen Raum; mit zwingender Gewalt bannt der
Geist des Staats deu Einzelnen in seine Kreise. Es ist sogar nothwendig, daß
diese Gewalt zunächst terroristisch auftritt; sie darf erst dann liberal werden, wenn
sie sich völlig durchgesetzt haben wird. Dann werden wir zu unserm Dichter wie¬
der zurückkehre".

Man erlaube mir hier eine Zwischenbemerkung. Sollen wir Goethe einen
Vorwurf daraus mache", daß sein Princip dem unsrigen fremd war? Liegt seiner¬
seits eine Schuld darin? -- Ich stelle diese Frage, um auf eine Begriffsverwir¬
rung aufmerksam zu machen, an der die neue Philosophie schuld oder nicht schuld
ist, je nachdem man diesen Ausdruck interpretirt.

In frühern Zeiten sagte man, Sokrates, Christus, Huß, Antigone u. s. w.
seien unschuldig getödtet. Mau wollte damit eigentlich nur eine moralische Billi¬
gung des Princips, das sie ihren Richtern gegenüber vertraten, vom Standpunkt
des gegenwärtigen ethischen Bewußtseins aussprechen. Hegel bat nun mit vollem
Recht die Wahrheit hervorgehoben, das schuldig sein zu können, das höchste Recht
des Menschen sei. Wie schon Plato hat er die Straft als ein Recht aufgefaßt,
das der Verbrecher in Anspruch zu nehmen habe, in so fern er ein zurechnungs¬
fähiges Wesen sei. Er hat nachgewiesen, daß Christus, Sokrates, Huß, Anti-
gone u. s. w. sich des Verbrechens, dessen ihre Richter sie ziehen, allerdings
schuldig gemacht haben, indem sie mit aller Gluth einer "enen Idee ein sittliches
Princip vertraten, das mit dem bisher giltigen in unauflöslichen Widerspruch
stand. Man hat das dann weiter ausgedehnt und hat in der Geschichte, wie
namentlich auch in der Kritik poetischer Kunstwerke es verfolgt, wie überall den,
Schicksal eine correspondirende Schuld entsprechen müsse, wenn von einem tra¬
gischen Conflict überhaupt die Rede sein dürfe. Indem man aber dabei die alte
Vorstellung im Sinn behielt, ist man auf die wunderliche Idee gekommen, in je¬
ner Anerkenntniß der Schuld eine moralische Mißbilligung ausgesprochen zu
meine". Man hat der Antigone im Ernst einen Vorwurf daraus gemacht, daß
sie der Brutalität des Staatögesetzes die höhere sittliche Pflicht der Pietät entge¬
genstellte, man hat, um das allersonderbarste Factum anzuführen, Cordelia im
Lear sehr ernsthaft darüber zurechtgewiesen, daß sie sich in die Laune ihres Vaters


die nur getrieben werden kann, nicht blos einen Willen, sondern sogar einen sou¬
veränen Willen verlieh; eine Fiction, die beiläufig noch immer die Idee des kon¬
stitutionellen Staates verwirrt.

Aber die Volkssouveränität hat eine andere, höhere Bedeutung, die zugleich
den wesentlichen Inhalt unsers Glaubens ausmacht: daß nämlich der Mensch seinen
vollen Werth erst als Bürger hat, als integrirendes Glied einer sittlichen Ge¬
meinschaft, deren Inhalt er in sich weiß und fühlt. In diesem souveränen Staat,
namentlich in der ersten Form seiner Erscheinung, als streitende Kirche, findet die
„menschliche" Freiheit, wie sie Werther, Götz, Faust, Meister, Herrmann, Eduard
und Goethe für sich fordern, keinen Raum; mit zwingender Gewalt bannt der
Geist des Staats deu Einzelnen in seine Kreise. Es ist sogar nothwendig, daß
diese Gewalt zunächst terroristisch auftritt; sie darf erst dann liberal werden, wenn
sie sich völlig durchgesetzt haben wird. Dann werden wir zu unserm Dichter wie¬
der zurückkehre».

Man erlaube mir hier eine Zwischenbemerkung. Sollen wir Goethe einen
Vorwurf daraus mache», daß sein Princip dem unsrigen fremd war? Liegt seiner¬
seits eine Schuld darin? — Ich stelle diese Frage, um auf eine Begriffsverwir¬
rung aufmerksam zu machen, an der die neue Philosophie schuld oder nicht schuld
ist, je nachdem man diesen Ausdruck interpretirt.

In frühern Zeiten sagte man, Sokrates, Christus, Huß, Antigone u. s. w.
seien unschuldig getödtet. Mau wollte damit eigentlich nur eine moralische Billi¬
gung des Princips, das sie ihren Richtern gegenüber vertraten, vom Standpunkt
des gegenwärtigen ethischen Bewußtseins aussprechen. Hegel bat nun mit vollem
Recht die Wahrheit hervorgehoben, das schuldig sein zu können, das höchste Recht
des Menschen sei. Wie schon Plato hat er die Straft als ein Recht aufgefaßt,
das der Verbrecher in Anspruch zu nehmen habe, in so fern er ein zurechnungs¬
fähiges Wesen sei. Er hat nachgewiesen, daß Christus, Sokrates, Huß, Anti-
gone u. s. w. sich des Verbrechens, dessen ihre Richter sie ziehen, allerdings
schuldig gemacht haben, indem sie mit aller Gluth einer »enen Idee ein sittliches
Princip vertraten, das mit dem bisher giltigen in unauflöslichen Widerspruch
stand. Man hat das dann weiter ausgedehnt und hat in der Geschichte, wie
namentlich auch in der Kritik poetischer Kunstwerke es verfolgt, wie überall den,
Schicksal eine correspondirende Schuld entsprechen müsse, wenn von einem tra¬
gischen Conflict überhaupt die Rede sein dürfe. Indem man aber dabei die alte
Vorstellung im Sinn behielt, ist man auf die wunderliche Idee gekommen, in je¬
ner Anerkenntniß der Schuld eine moralische Mißbilligung ausgesprochen zu
meine». Man hat der Antigone im Ernst einen Vorwurf daraus gemacht, daß
sie der Brutalität des Staatögesetzes die höhere sittliche Pflicht der Pietät entge¬
genstellte, man hat, um das allersonderbarste Factum anzuführen, Cordelia im
Lear sehr ernsthaft darüber zurechtgewiesen, daß sie sich in die Laune ihres Vaters


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0212" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/279238"/>
          <p xml:id="ID_678" prev="#ID_677"> die nur getrieben werden kann, nicht blos einen Willen, sondern sogar einen sou¬<lb/>
veränen Willen verlieh; eine Fiction, die beiläufig noch immer die Idee des kon¬<lb/>
stitutionellen Staates verwirrt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_679"> Aber die Volkssouveränität hat eine andere, höhere Bedeutung, die zugleich<lb/>
den wesentlichen Inhalt unsers Glaubens ausmacht: daß nämlich der Mensch seinen<lb/>
vollen Werth erst als Bürger hat, als integrirendes Glied einer sittlichen Ge¬<lb/>
meinschaft, deren Inhalt er in sich weiß und fühlt. In diesem souveränen Staat,<lb/>
namentlich in der ersten Form seiner Erscheinung, als streitende Kirche, findet die<lb/>
&#x201E;menschliche" Freiheit, wie sie Werther, Götz, Faust, Meister, Herrmann, Eduard<lb/>
und Goethe für sich fordern, keinen Raum; mit zwingender Gewalt bannt der<lb/>
Geist des Staats deu Einzelnen in seine Kreise. Es ist sogar nothwendig, daß<lb/>
diese Gewalt zunächst terroristisch auftritt; sie darf erst dann liberal werden, wenn<lb/>
sie sich völlig durchgesetzt haben wird. Dann werden wir zu unserm Dichter wie¬<lb/>
der zurückkehre».</p><lb/>
          <p xml:id="ID_680"> Man erlaube mir hier eine Zwischenbemerkung. Sollen wir Goethe einen<lb/>
Vorwurf daraus mache», daß sein Princip dem unsrigen fremd war? Liegt seiner¬<lb/>
seits eine Schuld darin? &#x2014; Ich stelle diese Frage, um auf eine Begriffsverwir¬<lb/>
rung aufmerksam zu machen, an der die neue Philosophie schuld oder nicht schuld<lb/>
ist, je nachdem man diesen Ausdruck interpretirt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_681" next="#ID_682"> In frühern Zeiten sagte man, Sokrates, Christus, Huß, Antigone u. s. w.<lb/>
seien unschuldig getödtet. Mau wollte damit eigentlich nur eine moralische Billi¬<lb/>
gung des Princips, das sie ihren Richtern gegenüber vertraten, vom Standpunkt<lb/>
des gegenwärtigen ethischen Bewußtseins aussprechen. Hegel bat nun mit vollem<lb/>
Recht die Wahrheit hervorgehoben, das schuldig sein zu können, das höchste Recht<lb/>
des Menschen sei. Wie schon Plato hat er die Straft als ein Recht aufgefaßt,<lb/>
das der Verbrecher in Anspruch zu nehmen habe, in so fern er ein zurechnungs¬<lb/>
fähiges Wesen sei. Er hat nachgewiesen, daß Christus, Sokrates, Huß, Anti-<lb/>
gone u. s. w. sich des Verbrechens, dessen ihre Richter sie ziehen, allerdings<lb/>
schuldig gemacht haben, indem sie mit aller Gluth einer »enen Idee ein sittliches<lb/>
Princip vertraten, das mit dem bisher giltigen in unauflöslichen Widerspruch<lb/>
stand. Man hat das dann weiter ausgedehnt und hat in der Geschichte, wie<lb/>
namentlich auch in der Kritik poetischer Kunstwerke es verfolgt, wie überall den,<lb/>
Schicksal eine correspondirende Schuld entsprechen müsse, wenn von einem tra¬<lb/>
gischen Conflict überhaupt die Rede sein dürfe. Indem man aber dabei die alte<lb/>
Vorstellung im Sinn behielt, ist man auf die wunderliche Idee gekommen, in je¬<lb/>
ner Anerkenntniß der Schuld eine moralische Mißbilligung ausgesprochen zu<lb/>
meine». Man hat der Antigone im Ernst einen Vorwurf daraus gemacht, daß<lb/>
sie der Brutalität des Staatögesetzes die höhere sittliche Pflicht der Pietät entge¬<lb/>
genstellte, man hat, um das allersonderbarste Factum anzuführen, Cordelia im<lb/>
Lear sehr ernsthaft darüber zurechtgewiesen, daß sie sich in die Laune ihres Vaters</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0212] die nur getrieben werden kann, nicht blos einen Willen, sondern sogar einen sou¬ veränen Willen verlieh; eine Fiction, die beiläufig noch immer die Idee des kon¬ stitutionellen Staates verwirrt. Aber die Volkssouveränität hat eine andere, höhere Bedeutung, die zugleich den wesentlichen Inhalt unsers Glaubens ausmacht: daß nämlich der Mensch seinen vollen Werth erst als Bürger hat, als integrirendes Glied einer sittlichen Ge¬ meinschaft, deren Inhalt er in sich weiß und fühlt. In diesem souveränen Staat, namentlich in der ersten Form seiner Erscheinung, als streitende Kirche, findet die „menschliche" Freiheit, wie sie Werther, Götz, Faust, Meister, Herrmann, Eduard und Goethe für sich fordern, keinen Raum; mit zwingender Gewalt bannt der Geist des Staats deu Einzelnen in seine Kreise. Es ist sogar nothwendig, daß diese Gewalt zunächst terroristisch auftritt; sie darf erst dann liberal werden, wenn sie sich völlig durchgesetzt haben wird. Dann werden wir zu unserm Dichter wie¬ der zurückkehre». Man erlaube mir hier eine Zwischenbemerkung. Sollen wir Goethe einen Vorwurf daraus mache», daß sein Princip dem unsrigen fremd war? Liegt seiner¬ seits eine Schuld darin? — Ich stelle diese Frage, um auf eine Begriffsverwir¬ rung aufmerksam zu machen, an der die neue Philosophie schuld oder nicht schuld ist, je nachdem man diesen Ausdruck interpretirt. In frühern Zeiten sagte man, Sokrates, Christus, Huß, Antigone u. s. w. seien unschuldig getödtet. Mau wollte damit eigentlich nur eine moralische Billi¬ gung des Princips, das sie ihren Richtern gegenüber vertraten, vom Standpunkt des gegenwärtigen ethischen Bewußtseins aussprechen. Hegel bat nun mit vollem Recht die Wahrheit hervorgehoben, das schuldig sein zu können, das höchste Recht des Menschen sei. Wie schon Plato hat er die Straft als ein Recht aufgefaßt, das der Verbrecher in Anspruch zu nehmen habe, in so fern er ein zurechnungs¬ fähiges Wesen sei. Er hat nachgewiesen, daß Christus, Sokrates, Huß, Anti- gone u. s. w. sich des Verbrechens, dessen ihre Richter sie ziehen, allerdings schuldig gemacht haben, indem sie mit aller Gluth einer »enen Idee ein sittliches Princip vertraten, das mit dem bisher giltigen in unauflöslichen Widerspruch stand. Man hat das dann weiter ausgedehnt und hat in der Geschichte, wie namentlich auch in der Kritik poetischer Kunstwerke es verfolgt, wie überall den, Schicksal eine correspondirende Schuld entsprechen müsse, wenn von einem tra¬ gischen Conflict überhaupt die Rede sein dürfe. Indem man aber dabei die alte Vorstellung im Sinn behielt, ist man auf die wunderliche Idee gekommen, in je¬ ner Anerkenntniß der Schuld eine moralische Mißbilligung ausgesprochen zu meine». Man hat der Antigone im Ernst einen Vorwurf daraus gemacht, daß sie der Brutalität des Staatögesetzes die höhere sittliche Pflicht der Pietät entge¬ genstellte, man hat, um das allersonderbarste Factum anzuführen, Cordelia im Lear sehr ernsthaft darüber zurechtgewiesen, daß sie sich in die Laune ihres Vaters

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/212
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/212>, abgerufen am 05.02.2025.