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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.

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das "scholastische" eines solchen Verfahrens zu Felde zu ziehn Es ist der
gewöhnliche Fehler einer derartigen Entgegnung, daß sie wieder mir die eine Seite
hervorhebt. Wenn Rosenkranz auch aus der Mosaikarbeit der Wanderjahre u. s. w>,
die nur aus der Alterschwäche des Dichters erklärlich ist, ein Kunstwerk machte,
so lag es nahe, daß der Gegner ans das Unkünstlerische des Producirens, das
in Beziehung ans den Gesammtplan der größten Werke allerdings überall nach¬
zuweisen ist, einen zu scharfe" Accent legte, und darüber eine andere Seite der
Kunst, eben jenes Festhalten des Maaßes, aus den Angen ließ.

Man sieht, daß die Verehrung der Philosophen nach einer ganz andern Seite
hin gerichtet ist, als die unsrer jungen Romantiker. Sie finden Regel, Kunst
und Gesetz, wo diese die göttliche Willkür bewundern. Aber in der Voraussetzung,
daß in ihrem Dichter überall die Harmonie sein soll, die man als das Merkmal
des Classischen darzustellen pflegt, gehn sie eben so willkürlich mit ihm um, als
die geniale Liederlichkeit, die in dem, was sie liebt, nichts als ihr Ebenbild
sucht. Goethe hat für alles Schöne ein Ange, für alles Tüchtige eine warme
Empfänglichkeit gehabt, und wenn man ihm in diesem Sinn Universalität zuspricht,
daß wie in einem weiten Spiegel alle bedeutenderen Regungen der Zeit irgendwo
in ihm ihr Bild finden, so würde man nicht Unrecht haben. Hat ja doch Karl
Grün, der Socialist, in den verschiedenen Entwürfen, mit denen sich die Wan¬
derer zur Verbesserung der menschlichen Gesellschaft tragen, ein vollständiges Sy¬
stem seines Glaubens finden wollen. Ein Anderes ist es aber, für das Vortreff¬
liche empfänglich zu sein, ein Anderes, es zu einer plastischen Totalität zu gestalten.
Man hat z. B. in Faust eine harmonische Weltanschauung gesucht, aus keinem
andern Grunde, als weil alle möglichen Richtungen des menschlichen Lebens frag¬
mentarisch darin ihre Berechtigung finden. Es ist auch wohl eine leitende Idee,
ein "rother Faden" nirgend zu verkennen, aber diese Einheit des Princips ist
überall äußerlich herangebracht, sie verwebt die einzelnen Perlen, ohne sie organisch
zu durchdringen. Die Humanität, das große Princip, dem Goethe und seine
Freunde huldigten, ist unendlich in der Fähigkeit zu recipiren, zur wirklichen
Gestaltung fehlt ihr aber die Kraft.

Ich komme bei einer andern Gelegenheit darauf zurück; für jetzt wollen wir
das vorliegende Werk im Einzelnen verfolgen.




Der Versuch, Goethe's politische Ansicht gegen die Vorwürfe des modernen
Liberalismus zu retten, ist nicht gelungen. Allerdings wird nachgewiesen, daß
Goethe in vielen Fällen für die augenblicklichen Regungen des Freiheitsgefühls
ein lebendiges Interesse, zuweilen anch ein Verständniß bewiesen, das mindestens



*) Im fünften Bande der Epigonen.

das „scholastische" eines solchen Verfahrens zu Felde zu ziehn Es ist der
gewöhnliche Fehler einer derartigen Entgegnung, daß sie wieder mir die eine Seite
hervorhebt. Wenn Rosenkranz auch aus der Mosaikarbeit der Wanderjahre u. s. w>,
die nur aus der Alterschwäche des Dichters erklärlich ist, ein Kunstwerk machte,
so lag es nahe, daß der Gegner ans das Unkünstlerische des Producirens, das
in Beziehung ans den Gesammtplan der größten Werke allerdings überall nach¬
zuweisen ist, einen zu scharfe» Accent legte, und darüber eine andere Seite der
Kunst, eben jenes Festhalten des Maaßes, aus den Angen ließ.

Man sieht, daß die Verehrung der Philosophen nach einer ganz andern Seite
hin gerichtet ist, als die unsrer jungen Romantiker. Sie finden Regel, Kunst
und Gesetz, wo diese die göttliche Willkür bewundern. Aber in der Voraussetzung,
daß in ihrem Dichter überall die Harmonie sein soll, die man als das Merkmal
des Classischen darzustellen pflegt, gehn sie eben so willkürlich mit ihm um, als
die geniale Liederlichkeit, die in dem, was sie liebt, nichts als ihr Ebenbild
sucht. Goethe hat für alles Schöne ein Ange, für alles Tüchtige eine warme
Empfänglichkeit gehabt, und wenn man ihm in diesem Sinn Universalität zuspricht,
daß wie in einem weiten Spiegel alle bedeutenderen Regungen der Zeit irgendwo
in ihm ihr Bild finden, so würde man nicht Unrecht haben. Hat ja doch Karl
Grün, der Socialist, in den verschiedenen Entwürfen, mit denen sich die Wan¬
derer zur Verbesserung der menschlichen Gesellschaft tragen, ein vollständiges Sy¬
stem seines Glaubens finden wollen. Ein Anderes ist es aber, für das Vortreff¬
liche empfänglich zu sein, ein Anderes, es zu einer plastischen Totalität zu gestalten.
Man hat z. B. in Faust eine harmonische Weltanschauung gesucht, aus keinem
andern Grunde, als weil alle möglichen Richtungen des menschlichen Lebens frag¬
mentarisch darin ihre Berechtigung finden. Es ist auch wohl eine leitende Idee,
ein „rother Faden" nirgend zu verkennen, aber diese Einheit des Princips ist
überall äußerlich herangebracht, sie verwebt die einzelnen Perlen, ohne sie organisch
zu durchdringen. Die Humanität, das große Princip, dem Goethe und seine
Freunde huldigten, ist unendlich in der Fähigkeit zu recipiren, zur wirklichen
Gestaltung fehlt ihr aber die Kraft.

Ich komme bei einer andern Gelegenheit darauf zurück; für jetzt wollen wir
das vorliegende Werk im Einzelnen verfolgen.




Der Versuch, Goethe's politische Ansicht gegen die Vorwürfe des modernen
Liberalismus zu retten, ist nicht gelungen. Allerdings wird nachgewiesen, daß
Goethe in vielen Fällen für die augenblicklichen Regungen des Freiheitsgefühls
ein lebendiges Interesse, zuweilen anch ein Verständniß bewiesen, das mindestens



*) Im fünften Bande der Epigonen.
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[0210] das „scholastische" eines solchen Verfahrens zu Felde zu ziehn Es ist der gewöhnliche Fehler einer derartigen Entgegnung, daß sie wieder mir die eine Seite hervorhebt. Wenn Rosenkranz auch aus der Mosaikarbeit der Wanderjahre u. s. w>, die nur aus der Alterschwäche des Dichters erklärlich ist, ein Kunstwerk machte, so lag es nahe, daß der Gegner ans das Unkünstlerische des Producirens, das in Beziehung ans den Gesammtplan der größten Werke allerdings überall nach¬ zuweisen ist, einen zu scharfe» Accent legte, und darüber eine andere Seite der Kunst, eben jenes Festhalten des Maaßes, aus den Angen ließ. Man sieht, daß die Verehrung der Philosophen nach einer ganz andern Seite hin gerichtet ist, als die unsrer jungen Romantiker. Sie finden Regel, Kunst und Gesetz, wo diese die göttliche Willkür bewundern. Aber in der Voraussetzung, daß in ihrem Dichter überall die Harmonie sein soll, die man als das Merkmal des Classischen darzustellen pflegt, gehn sie eben so willkürlich mit ihm um, als die geniale Liederlichkeit, die in dem, was sie liebt, nichts als ihr Ebenbild sucht. Goethe hat für alles Schöne ein Ange, für alles Tüchtige eine warme Empfänglichkeit gehabt, und wenn man ihm in diesem Sinn Universalität zuspricht, daß wie in einem weiten Spiegel alle bedeutenderen Regungen der Zeit irgendwo in ihm ihr Bild finden, so würde man nicht Unrecht haben. Hat ja doch Karl Grün, der Socialist, in den verschiedenen Entwürfen, mit denen sich die Wan¬ derer zur Verbesserung der menschlichen Gesellschaft tragen, ein vollständiges Sy¬ stem seines Glaubens finden wollen. Ein Anderes ist es aber, für das Vortreff¬ liche empfänglich zu sein, ein Anderes, es zu einer plastischen Totalität zu gestalten. Man hat z. B. in Faust eine harmonische Weltanschauung gesucht, aus keinem andern Grunde, als weil alle möglichen Richtungen des menschlichen Lebens frag¬ mentarisch darin ihre Berechtigung finden. Es ist auch wohl eine leitende Idee, ein „rother Faden" nirgend zu verkennen, aber diese Einheit des Princips ist überall äußerlich herangebracht, sie verwebt die einzelnen Perlen, ohne sie organisch zu durchdringen. Die Humanität, das große Princip, dem Goethe und seine Freunde huldigten, ist unendlich in der Fähigkeit zu recipiren, zur wirklichen Gestaltung fehlt ihr aber die Kraft. Ich komme bei einer andern Gelegenheit darauf zurück; für jetzt wollen wir das vorliegende Werk im Einzelnen verfolgen. Der Versuch, Goethe's politische Ansicht gegen die Vorwürfe des modernen Liberalismus zu retten, ist nicht gelungen. Allerdings wird nachgewiesen, daß Goethe in vielen Fällen für die augenblicklichen Regungen des Freiheitsgefühls ein lebendiges Interesse, zuweilen anch ein Verständniß bewiesen, das mindestens *) Im fünften Bande der Epigonen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/210>, abgerufen am 05.02.2025.