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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.

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nicht weit genug. Sie griffen den Menschen an und ließen den Künstler gelten,
als ob das Kunstwerk nicht wesentlich durch seine ethische Grundlage bestimmt
würde. Wir sind durch die fortgesetzte Mosaikarbeit der verschiedensten Weltan-
schauungen, wodurch unsere ganze Literatur sich charakterisirt, in unserm natürlichen
Denken und Empfinden so corrumpirt, daß uns die einfache Wahrheit als para¬
dox erscheint, und wenn wir bei deu Griechen lesen, daß sie die Begriffe gut und
schön uur der Form nach, nicht aber im Inhalt zu unterscheiden pflegten, so macht
uns das stutzig, es kommt uns neu vor, während doch die ganze Verschroben¬
heit der romantischen Begriffsverwirrung dazu gehörte, zwischen dem, was das
Wohlgefallen nothwendig erregt (dem Schönen), und dem, was an sich von Werth
ist (dem Gute"), einen Gegensatz aufzufinden. Der gesunde Menschenverstand
der Griechen legte dergleichen Einfälle nur komischen Figuren in den Mund, wie
Plato deu Sophisten, um sie auszulachen.

Wenn also die Freunde Goethe's, die romantische Schule und ihre Epigonen
sich an die Schönheit ihres Dichters hielten, und die Güte als etwas Triviales
den Philistern überließen, und wenn seine Gegner, die Nigvristen für Gott,
Tugend, Vaterland nUd Geschichte, seine Schönheit für einen zweifelhaften
Vorzug ausgeben, weil ihr die Güte fehle, so verfallen sie beide der näm¬
lichen Einfältigkeit. Was von Goethe's Dichtungen schön ist, ging aus seinem
Herzen hervor, das frei und warm für alles Natürliche schlug, nud was ihnen
fehlt -- die Energie der künstlerischen Komposition -- ist nichts anders als der Aus¬
druck seiner sittlichen Schwäche. Weil das erste hinlänglich gewürdigt ist, so er¬
fordert es die Gerechtigkeit der ästhetischen Kritik, den stärkeren Accent auf das
zweite zu legen. Es ist aber noch ein anderer Grund dafür anzuführen.

Wir haben bei dem schlechten Ausgang unserer neuesten Revolution alles mög¬
liche angeklagt, deu Verrath der Fürsten, die Schwäche der Bourgeoisie, die Ueber¬
treibungen des Volkes. Aber Eines haben wir vergessen. Bei der tiefen und
weitausgreifenden Bildung, die uns anch unsere Gegner nicht absprechen werden,
ist Eine Eigenschaft verhältnißmäßig sehr wenig entwickelt, der gesunde Menschen¬
verstand. Und zwar in den höchsten wie in den niedrigsten Regionen. Die Un¬
sicherheit unsers Urtheils macht sich aber anch in unsern Thaten geltend. So lange
es bei uns noch möglich ist, daß hochgebildete Männer uns ein wüstes Quodlibet
von geistreichen und abgeschmackten Einfällen, wie etwa den Faust und die Wan¬
derjahre als ein Meisterstück künstlerischer Komposition preisen, und daß dergleichen
auch Anklang findet -- so lauge haben wir auch uicht die Aussicht, in der objec¬
tiven Form unsers Wollens, im Staatswesen, etwas anderes zu erreichen, als ein
derartiges Quodlibet. Der ästhetische Geschmack steht gar nicht isolirt, und wenn
wir -- um ein ganz unscheinbares Beispiel zu wählen -- es als eine Schönheit
bewundern, daß in den Wahlverwandschasten die Erzählung durch ein sogenanntes
Tagebuch, -- d. h. eine Reihe von Bemerkungen über dies und jenes -- unter-


nicht weit genug. Sie griffen den Menschen an und ließen den Künstler gelten,
als ob das Kunstwerk nicht wesentlich durch seine ethische Grundlage bestimmt
würde. Wir sind durch die fortgesetzte Mosaikarbeit der verschiedensten Weltan-
schauungen, wodurch unsere ganze Literatur sich charakterisirt, in unserm natürlichen
Denken und Empfinden so corrumpirt, daß uns die einfache Wahrheit als para¬
dox erscheint, und wenn wir bei deu Griechen lesen, daß sie die Begriffe gut und
schön uur der Form nach, nicht aber im Inhalt zu unterscheiden pflegten, so macht
uns das stutzig, es kommt uns neu vor, während doch die ganze Verschroben¬
heit der romantischen Begriffsverwirrung dazu gehörte, zwischen dem, was das
Wohlgefallen nothwendig erregt (dem Schönen), und dem, was an sich von Werth
ist (dem Gute»), einen Gegensatz aufzufinden. Der gesunde Menschenverstand
der Griechen legte dergleichen Einfälle nur komischen Figuren in den Mund, wie
Plato deu Sophisten, um sie auszulachen.

Wenn also die Freunde Goethe's, die romantische Schule und ihre Epigonen
sich an die Schönheit ihres Dichters hielten, und die Güte als etwas Triviales
den Philistern überließen, und wenn seine Gegner, die Nigvristen für Gott,
Tugend, Vaterland nUd Geschichte, seine Schönheit für einen zweifelhaften
Vorzug ausgeben, weil ihr die Güte fehle, so verfallen sie beide der näm¬
lichen Einfältigkeit. Was von Goethe's Dichtungen schön ist, ging aus seinem
Herzen hervor, das frei und warm für alles Natürliche schlug, nud was ihnen
fehlt — die Energie der künstlerischen Komposition — ist nichts anders als der Aus¬
druck seiner sittlichen Schwäche. Weil das erste hinlänglich gewürdigt ist, so er¬
fordert es die Gerechtigkeit der ästhetischen Kritik, den stärkeren Accent auf das
zweite zu legen. Es ist aber noch ein anderer Grund dafür anzuführen.

Wir haben bei dem schlechten Ausgang unserer neuesten Revolution alles mög¬
liche angeklagt, deu Verrath der Fürsten, die Schwäche der Bourgeoisie, die Ueber¬
treibungen des Volkes. Aber Eines haben wir vergessen. Bei der tiefen und
weitausgreifenden Bildung, die uns anch unsere Gegner nicht absprechen werden,
ist Eine Eigenschaft verhältnißmäßig sehr wenig entwickelt, der gesunde Menschen¬
verstand. Und zwar in den höchsten wie in den niedrigsten Regionen. Die Un¬
sicherheit unsers Urtheils macht sich aber anch in unsern Thaten geltend. So lange
es bei uns noch möglich ist, daß hochgebildete Männer uns ein wüstes Quodlibet
von geistreichen und abgeschmackten Einfällen, wie etwa den Faust und die Wan¬
derjahre als ein Meisterstück künstlerischer Komposition preisen, und daß dergleichen
auch Anklang findet — so lauge haben wir auch uicht die Aussicht, in der objec¬
tiven Form unsers Wollens, im Staatswesen, etwas anderes zu erreichen, als ein
derartiges Quodlibet. Der ästhetische Geschmack steht gar nicht isolirt, und wenn
wir — um ein ganz unscheinbares Beispiel zu wählen — es als eine Schönheit
bewundern, daß in den Wahlverwandschasten die Erzählung durch ein sogenanntes
Tagebuch, — d. h. eine Reihe von Bemerkungen über dies und jenes — unter-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/206>, abgerufen am 05.02.2025.